Eine Evatochter (German Edition)
zu Willen zu sein. Nach ihrer Meinung konnte es ihnen in dem fremden Hause, in das sie gebracht wurden, nicht schlechter ergehen, als in dem mütterlichen Kloster.
Warum schützte der Vater dieser beiden Mädchen, Graf Granville, dieser große, gelehrte und rechtschaffene Jurist (wenn ihn auch bisweilen die Politik fortriß) die beiden kleinen Geschöpfe nicht vor diesem zermalmenden Despotismus? Ach! Beide Gatten lebten infolge einer denkwürdigen Vereinbarung, die sie nach zehnjähriger Ehe schlossen, in ihrem eignen Hause voneinander getrennt. Der Vater hatte sich die Erziehung der Söhne vorbehalten und der Mutter die der Töchter überlassen. Die Anwendung dieses Bedrückungssystems erschien ihm bei Mädchen weit ungefährlicher als bei Männern. Die beiden Marien waren ja dazu bestimmt, eine Tyrannei, die der Liebe oder der Ehe, zu ertragen. Somit verloren sie dabei weniger als die Knaben, deren Verstand frei bleiben mußte und deren Charakter unter dem gewaltsamen Druck übertriebener religiöser Vorstellungen gelitten hätte. Von vier Opfern hatte der Graf wenigstens zwei gerettet.
Die Gräfin betrachtete ihre beiden Söhne, deren einer Staatsanwalt und der andere Richter werden sollte, als zu schlecht erzogen, um ihnen irgendeinen vertrauten Umgang mit ihren Schwestern zu gestatten. Der Verkehr der armen Kinder wurde streng überwacht. Zudem hütete sich der Graf wohl, als seine Söhne die Schule verlassen hatten, sie ans Haus zu fesseln. Sie kamen zwar hin, um mit der Mutter und den Schwestern zu frühstücken, dann aber unternahm der Vater mit ihnen irgend etwas, um sie zu zerstreuen. Restaurant, Theater, Museen, im Sommer eine Landpartie, dienten zu ihrer Erholung. Eine Ausnahme bildeten die großen Familientage, wie die Geburtstage der Eltern, der Neujahrstag oder die Verteilung der Schulpreise. Dann wohnten und schliefen beide Knaben im Elternhause, fühlten sich hier höchst verlegen und wagten ihre von der Gräfin bewachten Schwestern nicht zu umarmen. Und da die Mutter diese keinen Augenblick allein ließ, sahen die beiden armen Mädchen ihre Brüder so selten, daß irgendein Verhältnis zwischen ihnen sich nicht entwickeln konnte. An diesen Tagen hörte man bei jedem Anlaß die Frage: »Wo ist Angelika?« – »Was tut Eugenie?« – »Wo sind meine Kinder?« War von ihren beiden Söhnen die Rede, so erhob die Gräfin ihre kalten, erstorbenen Augen zum Himmel, als bäte sie Gott um Vergebung dafür, daß sie sie nicht dem Unglauben entrissen habe. Ihre Ausrufe, aber auch ihr Schweigen, wenn von ihnen die Rede war, kamen den kläglichsten Jeremiaden gleich und gaben den beiden Schwestern ganz falsche Begriffe: sie hielten ihre Brüder für verdorben und für ewig verloren. Als die jungen Leute achtzehn Jahre alt wurden, gab der Graf ihnen zwei Zimmer in seiner Wohnung. Er ließ sie unter der Obhut eines Advokaten, seines Sekretärs, Jura studieren und sie von ihm in die Geheimnisse ihres künftigen Berufes einweihen. Die beiden Marien lernten also ihre Brüder nur abstrakt kennen. Als sie heirateten, war der eine Staatsanwalt an einem fernen Gerichtshof, der andere Anfänger in der Provinz, und beide mußten wegen großer Prozesse der Hochzeit fern bleiben. In vielen Familien, wo ein inniges, einmütiges Familienleben, ein innerer Zusammenhalt zu herrschen scheint, geht es folgendermaßen zu. Die Brüder sind weit fort und mit ihrer Zukunft, ihrem Fortkommen beschäftigt, sie gehen im Staatsdienst auf, und die Schwestern sind in einen Wirbel von fremden Familieninteressen verstrickt. So leben alle Familienmitglieder ohne Zusammenhalt und vergessen einander. Das einzige, was sie zusammenhält, sind die schwachen Bande der Erinnerung – bis zu dem Augenblick, wo der Stolz sie zusammenruft, der Vorteil sie wieder vereinigt oder auch innerlich entzweit, wie sie es schon äußerlich sind. Eine Familie, die geistig und körperlich zusammen lebt, ist eine seltene Ausnahme. Das moderne Gesetz, das aus einer Familie mehrere macht, hat das schrecklichste aller Übel geschaffen: die Vereinzelung.
In der tiefen Einsamkeit, in der ihre Jugend verfloß, sahen Angelika und Eugenie ihren Vater nur selten. Übrigens erschien er in der großen Wohnung im Erdgeschoß, in der seine Frau wohnte, stets mit bedrückter Miene. Auch zu Hause bewahrte er den ernsten, feierlichen Ausdruck des auf seinem Richterstuhl sitzenden Juristen. Als die beiden Mädchen aus dem Alter des Spielzeugs und der Puppen herausgewachsen
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