Eine Familie für Julianne
führen, aber bis jetzt war das eher ein Plan. Im Moment hatte er keine Arbeit, kein eigenes Zuhause und kein Geld – abgesehen von den paar Dollar, die er sich bei seinem Bruder Rudy verdient hatte. Der hatte in New Hampshire einen alten Gasthof gekauft und renoviert, wobei Kevin ihn tatkräftig unterstützt hatte.
Trotzdem reichte das nicht, um ein Kleinkind aufzuziehen.
Und wenn es nach dem Großvater ging, der draußen lautstark mit seiner Tochter diskutierte, würde er dazu auch gar keine Gelegenheit bekommen.
Kevin rieb sich die Nasenwurzel, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Es war wohl doch alles ein bisschen viel gewesen: Erst die Nachricht von Robyns Tod, dann …
„Ist alles okay?“
Er hatte Julianne nicht hereinkommen hören, nicht einmal mitbekommen, dass der Streit draußen beendet war. Dafür fiel ihm der anklagende Unterton in ihrer Stimme auf. Offenbar hatte ihr Gewissen sie dazu getrieben, ihm die Wahrheit über Pippa zu sagen – aber glücklich schien sie darüber nicht zu sein. Oder über ihn.
Kevin seufzte und ließ die Hand sinken. „Nicht wirklich, nein.“
„Tut mir leid, war eine dumme Frage.“
Beinahe hätte er gelächelt. „Wo ist Ihr Vater?“
„Unten. Er versucht, sich zu beruhigen.“ Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: „Aber glauben Sie nicht, dass Sie sich das Kind einfach schnappen und abhauen können. Er hätte Sie schneller eingeholt, als Sie bis drei zählen könnten.“
Kevin wandte kurz den Kopf, um Julianne anzusehen, doch sie hatte nur Augen für das Baby. Aber du wärst noch schneller als er, dachte er. Laut sagte er nur: „Ja, ich glaube, mit dem Stock könnte er mir ernsthaften Schaden zufügen. Ganz zu schweigen von dem Kampfhund hier.“
Schwanzwedelnd kam der leicht übergewichtige Labrador auf ihn zu und leckte Kevin die freie Hand, dann ließ er sich schnaufend neben ihm nieder.
Julianne seufzte. „Na schön, Gus ist nicht gerade ein Wachhund, aber unterschätzen Sie meinen Vater nicht. Wenn er sich nicht gerade den Nerv eingeklemmt hat, macht er täglich Krafttraining.“
„Und jetzt ist er sauer auf Sie, weil Sie ihn mit Ihrer Entscheidung einfach übergangen haben?“
„Er wird’s überleben“, sagte Julianne. Die unerwartete Stärke überraschte ihn, denn ansonsten wirkte sie eher unscheinbar. „Ich weiß, was Sie denken“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. „Aber Dad ist kein schlechter Mensch. Er leidet nur – und damit meine ich nicht seinen eingeklemmten Nerv.“
Kevin überdachte ihre Worte, dann antwortete er langsam: „Glauben Sie mir, Sie haben keine Ahnung, was ich denke.“
„Nein, wahrscheinlich nicht.“ Nach einer weiteren Pause fügte sie hinzu: „Pippa ist ein Wunder, wissen Sie.“
Kevin schaute kurz zu Pippa, dann sah er sich die Tante seiner Tochter zum ersten Mal richtig an. Sie stand in der Tür, die spindeldürren Arme über einem weißen, formlosen Top verschränkt. Dazu trug sie weite Hosen, die wie braune Papiertüten mit Dehnbund aussahen. Hinter den Brillengläsern lagen ihre hellblauen Augen tief in den Höhlen. Die Frau war so blass, dass man fast durch sie hindurchschauen konnte, und ihr schulterlanges, weißblondes Haar verstärkte den Effekt noch. Selbst an ihren schlechtesten Tagen hatte Robyn nicht so ausgemergelt ausgesehen.
Ich möchte wissen, was mit ihr los ist, dachte Kevin, aber laut sagte er: „Wieso ist sie ein Wunder?“
„Hätte Robyn sich nicht bei einem Sturz den Knöchel gebrochen, dann hätte Dad nicht rechtzeitig herausgefunden, dass sie schwanger ist. Vermutlich wäre es nachher zu spät gewesen, um noch einzugreifen. Mit vereinten Kräften haben wir sie mehr oder weniger zum Entzug gezwungen und sie dann für den Rest der Schwangerschaft nicht aus den Augen gelassen. Sonst …“
Ein Stich traf Kevin mitten ins Herz. „Ist sie okay?“, fragte er leise.
„So weit ja“, erwiderte Julianne. „Sie ist zwei Wochen zu früh zur Welt gekommen, hatte aber Normalgewicht. Und es sieht so aus, als ob sie in ihrer Entwicklung sogar etwas voraus wäre. Wir sind also optimistisch.“
Optimistisch, aber nicht sicher. Sorge wandelte sich in Panik, als er daran dachte, dass Pippa vielleicht irgendwann besondere Hilfe brauchen würde. Was, wenn er nicht wusste, was zu tun war? Oder sich teure Spezialisten nicht leisten konnte?
„Dad hat sich übrigens nur nach dem gerichtet, was Robyn wollte“, fuhr Julianne fort. „Sie war überzeugt, dass Sie sie im Stich
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