Eine Familie für Julianne
bevor er Juliannes betroffenen Blick voll zu spüren bekam.
2. KAPITEL
„Es ist die beste Lösung, Dad, und das weißt du auch.“ Julianne saß mit ihrem Vater auf der Terrasse, eine gerade gefütterte und hellwache Pippa im Hochstuhl neben sich.
„Für wen?“, fragte Juliannes Vater ärgerlich.
„Für uns alle“, erwiderte Julianne ruhig und steckte Gus einen Schinkenstreifen aus ihrem Salat zu.
„Blödsinn. Und hör auf, den Hund zu füttern.“
Ihr Vater hatte darauf bestanden, das Mittagessen zu machen, obwohl er wegen seines Rückens dreimal so lange brauchte wie sonst.
„Es war doch nur ein kleines Stück. Und ich selbst esse auch was. Siehst du?“
Julianne häufte eine Gabel voll und steckte sie in den Mund. Der frische, mit raffinierter Soße angemachte Salat schmeckte, wie alles in den letzten anderthalb Jahren, wie muffiges Zeitungspapier. Verflixt, was konnte sie dafür, dass sie kaum einen Bissen herunterbekam?
„Du hast dein Brot noch nicht angerührt“, mahnte er. „Und dabei ist es das gute von der Bäckerei. Mit der leckeren Kruste.“
Julianne starrte die dicke Scheibe unwillig an, die ihr Vater ihr abgeschnitten hatte. „So viel Hunger habe ich nun auch wieder nicht.“
Lustlos stocherte sie auf ihrem Teller herum. „Außerdem bin ich keine fünf mehr.“
„Aber du wiegst nicht viel mehr als damals. Also iss jetzt, zum Teufel, oder willst du, dass ich dich zum Arzt schleppe?“
Also schön. Ja, sie hatte zwei Kleidergrößen abgenommen seit Gils Tod, aber wenn sie nun mal keinen Hunger hatte … Wenigstens war ihr Vater so vom Thema abgekommen. Sie spießte einen weiteren Schinkenstreifen auf die Gabel, und Gus, der zu ihren Füßen saß, leckte sich hoffnungsvoll die Lefzen.
Julianne warf ihrem Vater über den Tisch hinweg einen Blick zu. Wie immer fühlte sie sich von den verschiedenen, teilweise widersprüchlichen Gefühlen, die das Zusammenleben mit ihm hervorrief, überfordert.
Dass ausgerechnet ihr Vater der Selbsthilfe-Guru sein musste, der anderen dabei half, ihre Familienprobleme zu lösen, die eigenen aber nicht mal sah, ärgerte sie oft. Doch meist siegte das Mitgefühl. Er hatte immer nur gewollt, dass seine Töchter glücklich waren – und konnte gegen ihr Unglück rein gar nichts tun, so sehr er es auch versuchte.
Da konnte sie doch wohl wenigstens essen, was er zubereitet hatte.
„Ich bin ehrlich gesagt ganz froh, dass Kevin jetzt schon von seiner Tochter erfahren hat und nicht erst später“, nahm sie das vorige Thema wieder auf. „Dann wäre es für uns – und für Pippa – noch viel schlimmer gewesen. Und jetzt, wo er es weiß, wird er nicht einfach wieder von der Bildfläche verschwinden. Oder seine Tochter einfach vergessen. Je eher du das einsiehst, desto leichter wird es für dich.“
Klirrend fiel seine Gabel auf den Teller. „Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich einem Junkie meine Enkelin überlasse!“
Bei seinen lauten Worten begann Pippa zu jammern. Gus, der seine Rolle als mütterlicher Helfer sehr ernst nahm, leckte ihre nackten Füßchen, was sie erfolgreich ablenkte. Sie lachte laut.
„Er ist kein Junkie“, widersprach Julianne. „Jedenfalls jetzt nicht mehr. Und außerdem hat selbst Robyn gesagt, dass er hauptsächlich ein Alkoholproblem hatte.“
„Und das soll mich jetzt beruhigen?“
„Nein, natürlich nicht. Aber immerhin ist er schon über ein Jahr trocken …“
„Sagt er. Vielleicht stimmt das ja gar nicht.“
Seufzend legte Julianne ihre Gabel hin, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute in den blühenden Garten hinaus. Der sattgrüne Rasen lag umrahmt von blühenden Rosenbüschen, Clematisranken, Azaleen und Rhododendren, die den hohen Sichtschutzzaun verdeckten. Ihr Vater verbrachte Stunden damit, wasserliebende Pflanzen im Wüstenklima New Mexikos zum Gedeihen zu bringen. Liebe gibt niemals auf , das war das Motto, mit dem er zum Selbsthilfeexperten geworden war und das er auch auf seinen Garten anwandte. Wenn du genug Zeit, Gefühle und Sorgfalt inves tierst, wird jede Beziehung wachsen und gedeihen.
Julianne wandte den Blick wieder ihrem Vater zu und dachte: Es muss die Hölle sein, eine Lüge zu leben.
Als Pippa wieder zu quengeln begann, nahm sie das Kind auf den Arm. Nur zu gut erinnerte sie sich an Kevins wilden Blick, als er seine Tochter auf dem Arm gehalten und begriffen hatte, dass er um sie würde kämpfen müssen.
„Ich weiß, dass ein Jahr unter diesen Umständen nicht
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