Eine Frage des Herzens
den Schrank unter dem Spülbecken, wo sich der randvolle Mülleimer mit den Küchenabfällen befand. Ein Schluchzen unterdrückend, streckte sie die Arme nach oben und versuchte, mit ihren kleinen Händen hineinzugreifen, um ihre Puppe herauszuholen.
Plötzlich kippte der Mülleimer um, und Nudeln, die vor Butter trieften, Kohlblätter, Teebeutel und Zigarettenkippen regneten auf sie herab. Doch sie hatte ihre Puppe wieder und drückte sie an ihr klopfendes Herz. Vom Lärm aufgeweckt, kam das Ehepaar die Treppe heruntergelaufen. Sie schrien empört auf und versuchten, ihr die Puppe aus den Händen zu reißen. Sie war sich nicht sicher, wen von beiden sie biss – sie grub ihre Zähne mit voller Wucht in die nächstbeste Hand –, und es war ihr ehrlich gestanden egal. »James!«, schluchzte sie. »James.«
Sie war mit Abfall bedeckt, aber die beiden machten sich nicht einmal die Mühe, sie zu baden, bevor sie ins Kinderheim zurückgebracht wurde.
Mit vier wurde James in den Jungen- und Kathleen in den Mädchenflügel verlegt. Die Eingewöhnungsphase war schwierig, aber sie fanden zahlreiche Möglichkeiten, in jeder freien Minute zusammen zu sein. Das Kinderheim war ein weitläufiger, U-förmiger Bau, und jeden Abend vor dem Zubettgehen winkten sie sich vom Fenster ihres jeweiligen Schlaftrakts aus zu. Wenn Kathleen nicht schlafen konnte, eilte sie ans Fenster, und oft stand James auf der anderen Seite des Innenhofs und wachte über sie.
Jahre vergingen. Da sie Mathematik und Naturwissenschaften hasste, erledigte er die Hausaufgaben für sie. Als sie ein Weihnachtsspiel aufführten, studierte er mit ihr die Rolle der Maria ein. Als sie Läuse bekam und die Nonnen darauf bestanden, ihr die langen, dunklen Haare abzuschneiden, nahm er sie in die Arme, während sie herzergreifend schluchzte, und tröstete sie mit den Worten, sie sei das hübscheste Mädchen der Welt. Als Schwester Anastasia ihr den heißbegehrten Ausbildungsplatz als Küchenlehrling gab, übernahm er freiwillig die gleichermaßen verhasste, bis dahin tunlichst gemiedene Arbeit des Geschirrspülers.
Manchmal, wenn der Ostwind wehte und der Geruch des Meeres über die Dächer von Dublin driftete, standen sie im geteerten Innenhof und unterhielten sich über den Ausflug an den Strand, den die Nonnen mit den Kindern unternahmen. Er fand einmal im Jahr statt, im Sommer, und stellte für Kathleen und James die schönste Zeit des Lebens dar. Die Füße im Sand, durften sie nach Herzenslust schwimmen, den ganzen Tag spielen und sich so glücklich wie nur irgendein Mensch auf der Welt fühlen.
Auch wenn alle, die im Kinderheim arbeiteten, sagten, sie seien wie Bruder und Schwester, wusste Kathleen, dass sie sich täuschten. Was sie für James empfand, ging erheblich tiefer. Zugegeben, er war ihre Familie, aber ihr fehlten die unbedarften, naiven Gefühle, die Kinder und Heranwachsende ihren Geschwistern entgegenbrachten. Sie hatte Geschwister kennengelernt, die ins Heim kamen, nachdem die Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen, dem Alkohol verfallen oder bei einem Brand obdachlos geworden waren. Sie hielten wie Pech und Schwefel zusammen, beschützten sich gegenseitig, neckten sich. Sie hatte gesehen, dass sie ein Herz und eine Seele sein konnten, aber bisweilen auch zu Gleichgültigkeit, unvorstellbarer Grausamkeit und unerbittlicher Rivalität imstande waren.
Solche Empfindungen waren ihr in Bezug auf James fremd. Sie liebte ihn über alle Maßen. Es gab Augenblicke, in denen sie in seiner Gegenwart nichts als Wohlbehagen empfand, doch im Lauf der Zeit machte dieses Gefühl einer tiefen namenlosen Sehnsucht Platz, die sie mit Leib und Seele ergriff.
Manchmal liehen die Nonnen Videofilme für die Jugendlichen aus, und wenn sie in Liebesszenen sah, wie ein Mädchen einen Jungen küsste, dachte sie an James. Wenn sie nachts im Bett lag, stellte sie sich vor, dass er sie küsste wie im Film. Letzten Winter, an einem eiskalten Abend, als alle warm eingemummt in ihren Betten lagen, hatten sie den Traum verwirklicht. Sie hatten sich im warmen Heizungsraum geküsst, und als Kathleen spürte, wie er sie scheu in die Arme nahm, hatte sie gewusst, was wahre, höchste Glückseligkeit bedeutete: unverfälschte Nähe zu einem anderen menschlichen Wesen.
»Was glaubst du, wie lange wir noch im Heim bleiben werden?«, hatte sie eines Tages im letzten Frühjahr bei einem Gruppenausflug nach Glencree in den Wicklow Hills gefragt, kurz nach dem Besuch einer
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