Eine Frage des Herzens
erspähte.
»Wenn die Nonnen das herausfinden …« Panik ergriff sie. »Du weißt, eines würden sie niemals dulden, und das ist stehlen. Wir können nur beten, dass sie noch nicht entdeckt haben, was du getan hast.«
»Du würdest mit ihnen gehen? Mit deinen Eltern?«
Es war, als hätte er ihr überhaupt nicht zugehört, als würde er keinen Gedanken an die gestohlenen Sachen verschwenden, an die Möglichkeit, dass ihn die Nonnen der Polizei übergeben und er zu einer Jugendstrafe verurteilt werden könnte, je nachdem, was er entwendet hatte. Sie dachte an einen der älteren Jungen im Heim zurück, der vor einigen Jahren einen goldenen Abendmahlskelch gestohlen und verkauft hatte, um sich Drogen zu beschaffen. Er war im Gefängnis gelandet.
»Sag mir, Kathleen, wenn du zwischen ihnen und mir wählen müsstest, wie würdest du dich entscheiden?«
Ihr Herz klopfte so sehr, dass sie fürchtete, er könne es durch den Badeanzug sehen. Sie fühlte sich benommen, ihr Mund war trocken. Sie wünschte, sie könnte ihn belügen, um ihn nicht zu verletzen, doch dazu liebte sie ihn zu sehr. Sie schuldete James alles, insbesondere aber die Wahrheit.
»Das sind meine Eltern«, flüsterte sie. Sie hätte nicht einmal genau sagen können, was sie damit meinte. Die Leute waren ihr fremd, aber verdienten sie nicht eine Chance? Mehr hatte sie damit nicht sagen wollen – dachte sie zumindest rückblickend. Die Wahrheit war, dass sie nicht einmal jetzt sicher war, für wen sie sich entschieden hätte. Sie konnte sich nicht vorstellen, mit wem sie gehen und wen sie zurücklassen würde, wenn sie direkt vor ihr standen, ihre Eltern und James.
Aber für James war die Entscheidung gefallen. In jenem Augenblick sah sie, wie sein Herz brach. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte ihn nie zuvor weinen sehen und schmolz dahin. Sie griff nach seiner Hand.
Doch er wandte ihr abrupt den Rücken zu und eilte davon, den Strand entlang. Sie wollte ihm nachlaufen, doch dann rief Schwester Anastasia mit so strenger Stimme seinen Namen, dass Kathleen wusste, was die Uhr geschlagen hatte, noch bevor sie sich umdrehte.
»James! Komm her! Ich möchte mit dir reden!«
Doch James ging einfach weiter. Er rannte nicht, aber er blickte kein einziges Mal zurück. Vielleicht rechnete er damit oder wünschte sich, dass sie ihm nachkam, ihn einholte, um mit ihm gemeinsam wegzugehen oder ihn zur Rückkehr zu überreden.
Sie tat weder das eine noch das andere. Und ihre leiblichen Eltern warteten bereits auf sie, als sie an jenem Tag vom Strandausflug zurückkamen, und sie nahmen sie mit nach Hause.
[home]
TEIL I
1
S chwester Bernadette Ignatius und Tom Kelly saßen auf dem Rücksitz eines schwarzen Taxis und fuhren vom Dubliner Flughafen in die Stadt. Sie litt unter einem Jetlag nach dem langen Flug von Boston und all den wetterbedingten Verspätungen, doch sie war gespannt auf das, was sie herausfinden würde. Obwohl sie seit über zwanzig Jahren nicht mehr in Dublin gewesen war, wirkte die Stadt vertraut – die schmucken georgianischen Häuser und farbenfrohen Türen, die Steinbrücken, die sich über den Liffey-Fluss spannten, die Säulenfassaden vor den imposanten Regierungsgebäuden.
»Schau mal«, sagte Tom und beugte sich über den Sitz, um auf ein hübsches Backsteingebäude mit leuchtend rosa Petunien zu deuten, die aus den glänzenden schwarzen Blumenkästen vor den Fenstern quollen. »O’Malley’s Pub. Den gibt es immer noch. Erinnerst du dich? Unser ureigenes, persönliches
Tir na Nog.
Dort haben wir …«
»Manche Dinge ändern sich nie«, unterbrach sie ihn rasch. »Ich wüsste gerne, ob Mr. O’Malley immer noch hinter dem Tresen steht.«
»Und ich wüsste gerne, was er denken würde, wenn er Bernie Sullivan im Habit einer Ordensfrau sehen würde.«
»Da sich der Konvent gleich um die Ecke befindet, wird ihn der Anblick einer Nonne kaum aus der Fassung bringen.«
»Nein. Aber du bist ja keine x-beliebige Nonne.«
»Tom Kelly«, erwiderte sie tadelnd. »Wir können uns das Leben angesichts der Aufgabe, die vor uns liegt, schwer oder leicht machen; ich plädiere für den leichten Weg.«
»Du bist der Boss, Schwester Bernadette. Dein Wort sei mir Befehl. Wie immer.«
Sie nickte. In diesem Punkt hatte er recht, sie war seine Dienstherrin. Tom war Agrarwirt und Verwalter der Star of the Sea Academy in Black Hall, Connecticut, und Bernadette Äbtissin des Klosters, das den Mittelpunkt des weitläufigen
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