Eine Frau in Berlin
Bündel in Segeltuch. Der ausgrabende Mann, ein älterer Zivilist, wischte sich den Schweiß mit seinen Hemdärmeln und fächelte sich mit seiner Kappe Luft zu. Zum ersten Mal verspürte ich, wie Menschenaas riecht. In allen möglichen Schilderungen hab ich den Ausdruck »süßlicher Leichengeruch« gefunden. Ich finde das Beiwort »süßlich« ungenau und keineswegs ausreichend. Mir kommt dieser Dunst gar nicht wie ein Geruch vor; eher wie etwas Festes, Dickliches, wie ein Luftbrei, ein Brodem, der sich vor dem Gesicht und den Nüstern staut; der zu stockig und dicht ist, um eingeatmet zu werden. Es verschlägt einem die Luft. Es stößt einen zurück wie mit Fäusten.
Überhaupt stinkt Berlin jetzt sehr. Der Typhus geht um; die Ruhr läßt kaum jemanden aus. Herrn Pauli hat sie kräftig erwischt. Und die Grindige ist, wie ich abends hörte, abgeholt worden, sie soll in irgendeiner Typhusbaracke liegen. Überall fliegenverseuchte Müllfelder. Fliegen über Fliegen, blauschwarz und fett. Muß das ein Leben für die Biester sein! Jeder Kotkrümel ist eine summende, schwarzwimmelnde Kugel.
Eine Parole hat die Witwe gehört, sie geht derzeit in Berlin um: »Die strafen uns mit Hunger dafür, daß etliche Werwölfe in diesen Tagen auf Russen geschossen haben.« Ich glaube nicht daran. In unserer Gegend sieht man überhaupt keine Russen mehr, da wäre gar keine Beute für Werwölfe. Ich weiß nicht, wo die Iwans geblieben sind. Die Witwe behauptet, daß die eine der beiden in unserem Haus verbliebenen Jubelschwestern, Anja mit dem niedlichen Söhnchen, nach wie vor fleißig anschleppenden Russenbesuch bekomme. Wer weiß, ob das gutgeht. Ich sehe Anjas weiße Gurgel im Geiste schon aufgeschlitzt über der Sofalehne.
(Ende Juni an den Rand gekritzelt: Nicht Anja und nicht Gurgel, aber eine Inge, zwei Häuser weiter, nach einer Saufnacht mit vieren, Unbekannten, bisher nicht Entdeckten, am Morgen mit zerklopftem Schädel aufgefunden. Erschlagen mit einer – natürlich leeren – Bierflasche. Bestimmt nicht aus Bosheit oder Mordgier, sondern einfach so, vielleicht im Streit um die Reihenfolge. Oder diese Inge hat über ihre Besucher gelacht. Betrunkene Russen sind gefährlich, sie sehen rot, wüten gegen sich und gegen jeden, wenn gereizt.)
Mittwoch, 13. Juni 1945
Ein Tag für mich. Ich suchte zusammen mit der Witwe Brennesseln und Melde. Wir streiften durch des Professors zerstörten, verwilderten Garten. Selbst wenn ich noch eine amtliche Erlaubnis zur Gartenbestellung erhielte – hier käme sie zu spät. Fremde Hände haben ganze Äste vom Kirschbaum abgeschlagen, haben die kaum erst gelben Kirschen abgepflückt. Hier wird nichts reifen, die Hungrigen ernten schon vorher.
Kälte, Sturm und Regen. Zum ersten Mal fuhr durch unsere Straße wieder die Straßenbahn. Ich fuhr gleich mit, stieg ein, bloß um zu fahren, überlegte mir aber unterwegs, daß ich gut zum Rathaus fahren und nachfragen könnte, ob wir tatsächlich für unsere Arbeit im Dienste der Russen, für die Woche auf dem Fabrikgelände, Lohn zu erwarten hätten. Wirklich fand ich meinen Namen dort in einer Liste wieder; säuberlich war jeder Arbeitstag vermerkt, für mich und für die anderen Frauen. Sogar Abzüge für die Steuern waren eingetragen. Ausgezahlt erhalte ich 56 Mark – allerdings erst, wenn wieder Geld in der Stadtkasse ist. Der Angestellte forderte mich auf, nächste Woche nochmals nachzufragen. Immerhin wird doch wieder registriert und addiert und kassiert, da werde ich schon was kriegen.
Während ich in Sturm und Regen auf die Bahn für die Rückfahrt wartete, sprach ich mit einem Flüchtlingspaar. Mann und Frau, sind seit achtzehn Tagen unterwegs. Sie kamen aus der Tschechei, berichteten Böses. »Der Tscheche nimmt den Deutschen an der Grenze das Hemd ab und schlägt sie mit der Hundepeitsche«, sagt der Mann. Und darauf die Frau, müde: »Wir dürfen nicht klagen. Wir haben's ja selbst so gewollt.« Alle Oststraßen sollen von Flüchtlingen wimmeln.
Während der Heimfahrt sah ich Menschen aus einem Kino kommen. Sofort stieg ich aus, begab mich zur nächsten Vorstellung in den ziemlich leeren Saal. Ein Russenfilm, Titel Sechs Uhr abends nach Kriegsende. Seltsames Gefühl, nach all der selbsterlebten Kolportage wieder in einem Kino zu sitzen, sich etwas vorspielen zu lassen.
Unter dem Publikum noch Soldaten neben etlichen Dutzend Deutschen, Kindern zumeist. Kaum eine Frau; noch trauen sie sich nicht ins Dunkle unter all die
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