Eine Frau in Berlin
werden.
Die Lektüre weckt die zwiespältigsten Empfindungen. Es liegt das in der Person der Autorin. Am erschreckendsten erscheint die Kälte, mit der sie aufzeichnet; bis man erschüttert bemerkt, daß hier keine künstliche Objektivierung stattgefunden hat (wie etwa durch die Literatur-Erfindung des »Kamera-Auges« von Dos Passos), sondern Kälte sich ausbreiten muß, weil die Empfindungen erfroren waren – erfroren vor Entsetzen. »Ich glaube, es war Verzweiflung, die meine Nerven stählte«, berichtet sehr nüchtern der Schiffersmann, der im Maelstrom entkam – in der Erzählung des Edgar Allan Poe. – So ist die Haltung der Autorin auch nicht fatalistisch zu nennen, obwohl ihr Charakter gewisse fatalistische Züge erkennen läßt. Eine vielleicht auftauchende Frage möchte ich aus Kenntnis des Milieus als unzulässig zurückweisen: Ob die Autorin sich in der einen oder anderen Situation hätte anders verhalten können? Mir steht es zu, hier zu sagen, was die Autorin nicht einmal andeutet: Dadurch, daß sie Russisch sprach, war sie für ein ganzes Haus voller Menschen der einzige Parlamentär. Im Krieg zwischen östlichen und westlichen Völkern war die weiße Flagge niemals echter Schutz, und mehr als ein freiwilliger Parlamentär starb zwischen den Fronten.
Wem überhaupt steht es zu, vor solchem Massenschicksal nach moralischem Maßstab zu suchen, der nur ans Individuum angelegt werden darf? Keinem Mann! – denn allzu viele waren es, die vor der Maschinenpistole zu Frau oder Tochter sagen mußten: »Nun geh schon mit!« Und wer nie vor einer Maschinenpistole stand, der soll hier schweigen. Aber auch keiner Frau! – sofern sie nicht einmal wenigstens im Strom eines Massenschicksals trieb. Aus der Sicherheit ist's allzuleicht, zu richten.
Befremdlich ist, daß das Buch ohne Haß ist. Aber da, wo alle Empfindungen erfroren, konnte auch kein Haß mehr lodern. Durch Sigmund Freud wissen wir (aber ich warne hier, sich durch gängige Vokabeln der Psychoanalyse die Tiefenlotung zu leicht zu machen), daß Triebe ihr Ziel verändern können, »dass sie einander ersetzen können, indem die Energie des einen Triebs auf einen ändern übergeht«. Es wird keinem Leser verborgen bleiben, daß in den Bewohnern dieses Berliner Hauses ein Trieb alle andern überwucherte: der Hunger. Das aber ist der Trieb zum Überleben, zu welchem Preis auch immer.
Wichtig scheint mir noch, was mir im Jahre 1947 die Autorin einmal sagte: »Keins der Opfer kann das Erlittene gleich einer Dornenkrone tragen. Ich wenigstens hatte das Gefühl, daß mir da etwas geschah, was eine Rechnung ausglich.« Inmitten der Unmenschlichkeit nach Gerechtigkeit zu fahnden – dies scheint mir das bemerkenswerteste Merkmal dieses Dokuments zu sein, eines document humain und deshalb nicht eines document politique.
So entkam die Autorin den Strudeln mit dem heimlichen Triumph, daß sie aus den Tiefen des Maelstroms emporzusteigen vermochte, nicht weil ein physikalisches Gesetz half, sondern weil sie sich nicht aufgab, obwohl sie sich preisgeben musste.
C.W. Ceram, August 1954
(Kurt W. Marek)
Inhalt
Vorwort
Seite 5
Tagebuchaufzeichnungen
vom 20. April bis 22. Juni 1945
Seite 7 bis 283
Nachwort
von Kurt W. Marek
Seite 285
»Homo homini lupus!«
Eine Frau in Berlin
schließt sich einer Reihe von Zeugnissen, Dokumenten und Tagebuchaufzeichnungen zur jüngeren deutschen Geschichte an, die in der Anderen Bibliothek erschienen sind. Dazu gehören:
Erika von Harnstein: Flüchtlingsgeschichten. 43 Berichte aus den frühen Jahren der DDR. Nördlingen 1985 (AB 8).
Europa in Trümmern. Augenzeugenberichte aus den Jahren 1944 bis 1948. Gesammelt von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt am Main 1990 (AB 65).
Ernst Troeltsch: Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922. Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Johann Hinrich Claussen. Frankfurt am Main 1994 (AB 109).
Friedrich Reck: Tagebuch eines Verzweifelten. Mit einem biographischen Essay von Christine Zeile. Frankfurt am Main 1994 (AB 113).
Margret Bovari: Tage des Überlebens. Berlin 1945. Frankfurt am Main 1996 (AB 136).
Saul K. Padover: Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45. Aus dem Amerikanischen von Matthias Fienbork. Mit Photographien von Lee Miller. Frankfurt am Main 1999 (AB 174).
Geheime Welten. Deutsche Tagebücher aus den Jahren 1939 bis 1947. Gesammelt von Heinrich Breloer.
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