Vor dem Sturm (German Edition)
Der erste Tag
GEBURT UNTER EINER
NACKTEN GLÜHBIRNE
C HINA HAT SICH GEGEN SICH SELBST GEWANDT . Wenn ich nicht Bescheid wüsste, würde ich denken, sie will ihre Pfoten fressen. Ich würde sie für verrückt halten. Was sie irgendwie auch ist. Lässt keinen an sich ran, außer Skeet. Als sie noch ein frecher Pitbullwelpe war, klaute sie alle Schuhe im Haus, alle schwarzen Turnschuhe, die Mama uns gekauft hatte, weil man darauf den Dreck nicht sieht und weil sie halten, bis sie völlig ausgetreten sind. Nur Mamas verschollene Sandalen mit den dünnen Absätzen, die von der schlammigen roten Erde ganz pink verfärbt waren, sahen anders aus. China versteckte alle Schuhe unter den Möbeln und hinter dem Klo oder türmte sie zu Haufen und schlief darauf. Sobald sie alt genug war, um zu rennen und die Treppe alleine hinunterzustolpern, brachte sie die Schuhe nach draußen und legte sie in kleine Mulden unter dem Haus. Starr und unnachgiebig wie ein Baum stand sie davor, wenn wir versuchten, sie ihr wegzunehmen. Jetzt jedoch gibt China, statt wie früher zu nehmen, sie schenkt, wo sie früher gestohlen hat. Sie gebärt Welpen.
Was China macht, hat keine Ähnlichkeit mit dem, was Mama gemacht hat, als sie meinen kleinen Bruder Junior geboren hat. Mama kam nieder in dem Haus, in dem sie uns alle zur Welt gebracht hatte, hier auf dieser Lichtung im Wald, die ihr Vater geschlagenund bebaut hat und die wir heute das Pit nennen. Ich, das einzige Mädchen und mit acht Jahren die jüngste, war ihr keine Hilfe, obwohl Daddy meinte, sie hätte ihm gesagt, sie brauche keine Hilfe. Daddy hat erzählt, dass Randall, Skeetah und ich sehr schnell gekommen sind, dass Mama uns alle in ihrem Bett geboren hat, unter ihrer eigenen nackten Glühbirne, und als es bei Junior so weit war, dachte sie, sie könnte es genauso machen. Das hat nicht geklappt. Mama saß in der Hocke, schrie zum Schluss. Junior war so blau wie eine Hortensie, als er herauskam: Mamas letzte Blume. Genau so berührte sie Junior, als Daddy ihn ihr hinhielt: ganz zart, nur mit den Fingerspitzen, als fürchte sie, die Pollen wegzuwischen, die Pracht der Blüte zu zerstören. Sie sagte, sie wolle nicht ins Krankenhaus. Daddy schleppte sie vom Bett in seinen Wagen, während das Blut aus ihr heraustropfte, und wir sahen sie nie wieder.
Was China macht, ist kämpfen, dazu wurde sie geboren. Mit unseren Schuhen, mit anderen Hunden, mit diesen Welpen, die nach draußen drängen, blind und nass. China schwitzt und die Jungs leuchten, und durch das Schuppenfenster sehe ich Daddy, dessen Gesicht glänzt wie ein Fisch unter Wasser, wenn ihn ein Sonnenstrahl trifft. Es ist still. Drückend. Es fühlt sich an, als müsste es regnen, aber es regnet nicht. Keine Sterne zu sehen, und die nackten Glühbirnen des Pit brennen.
»Geh von der Tür weg. Du machst sie nervös.« Skeetah sieht aus wie Daddy: dunkel, klein und mager. Knorriger Körper, Muskeln wie Seile. Er ist der Zweitälteste, sechzehn, aber für China ist er die Nummer eins. Sie hat nur Augen für ihn.
»Sie guckt uns gar nicht an«, sagt Randall. Er ist mit siebzehn der Älteste. Größer als Daddy, aber ebenso dunkel. Er hat schmale Schultern und Augen, die aussehen, als wollten sie ihm aus dem Kopf springen. In der Schule halten sie ihn für einen Langweiler, aber auf dem Basketballfeld bewegt er sich mit seinen langenBeinen so flink und anmutig wie ein Kaninchen. Wenn Daddy jagen geht, feuere ich immer das Kaninchen an.
»Sie brauch Raum zum Atmen.« Skeetahs Hand gleitet über Chinas Fell, und er beugt sich vor, um an ihrem Leib zu lauschen. »Sie muss sich entspannen.«
»Sie is kein bisschen entspannt.« Randall steht in der offenen Tür und hält das Laken hoch, das Skeetah als Türersatz angenagelt hat. Die ganze letzte Woche hat Skeetah im Schuppen geschlafen und auf die Geburt gewartet. Jeden Abend habe ich abgewartet, bis er das Licht ausmachte, bis ich sicher war, dass er schlief, und bin dann durch die Hintertür hinaus zum Schuppen gegangen, dahin, wo ich jetzt auch stehe, um nach ihm zu sehen. Jedes Mal habe ich ihn schlafend vorgefunden, seine Brust an Chinas Rücken. Er schmiegte sich an die Hündin wie ein Fingernagel ans Fleisch.
»Ich will zugucken.« Junior umklammert Randalls Beine, beugt sich vor, um etwas zu sehen, traut sich aber nicht, mehr als seine Nasenspitze in den Raum zu stecken. China beachtet uns andere normalerweise gar nicht, und Junior beachtet China normalerweise auch nicht. Aber
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