Eine Frau sein ist kein Sport
und Neugier ist aber ein gewaltiger Unterschied. Interesse nämlich schließt auch Anteilnahme ein.
Interessiert sich – zum Beispiel – Frau Meier für das Liebesleben ihrer Nachbarin, so heißt das, dass sie sich Gedanken darüber macht, ob der neue Freund der Nachbarin auch wirklich ein netter Mensch sei, dass sie hofft, die Nachbarin möge mit ihm glücklich werden, und dass sie, falls dies nicht eintritt, auch bereit ist, der Nachbarin mit Zuspruch und Trost beizustehen.
Lauert Frau Meier jedoch bloß allabendlich hinter dem »Guckerl«, um zu sehen, ob die Nachbarin allein oder in Begleitung heimkommen werde, und kontrolliert sie um Mitternacht alle vor dem Haus parkenden Autos, um ihren Verdacht zu erhärten, dass der Besuch der Nachbarin noch im Hause sei, dann gilt Frau Meier als neugierig.
Die neugierigste Person, die ich je kannte, war eine alte Frau, die mit einem Operngucker bewaffnet und getarnt durch einen Spitzenvorhang von ihrem Wohnzimmerfenster aus das Leben im Haus gegenüber kontrollierte. Die alte Frau war 24 Stunden pro Tag im Dauereinsatz, wusste, was gegenüber gegessen wurde, wie gegenüber gewohnt wurde, wann gegenüber nach Hause gekommen wurde, wo gegenüber gestritten wurde und wer gegenüber mit wem gut Freund war. Die erregendsten Details im Haus gegenüber entgingen der alten Frau freilich, denn von denen schloss man sie – durch Herabziehen der Rollos – aus.
Eines Tages nun hatte eine Familie von der ständigen Opernguckerüberwachung genug. Der Mann raste über die Straße, stampfte die Treppe hoch, klingelte an der Tür der alten Frau und brüllte, als sie öffnete: »Mir reicht’s! Haben Sie alte Schreckschraube nix anderes zu tun, als hinter uns herzuspionieren?«
Die alte Frau schlug entsetzt die Tür zu und war von da an nie mehr lauernd hinter dem Spitzenvorhang zu sichten. Bald darauf starb sie.
Zusammenhänge zwischen ihrem Tod und ihrer Opernguckerabstinenz sah niemand. Vielleicht gab es sie auch gar nicht. Aber sicher ist, dass sich die alte Frau ein bisschen Leben durch den Operngucker in ihre Einsamkeit herübergeholt hat. Vielleicht war sie gar nicht neugierig. Vielleicht hat sie wirklich Anteil genommen, hat sich Sorgen gemacht, wenn der Herr Doktor ins Haus gegenüber gegangen ist, hat sich gefreut, wenn sich im Haus gegenüber zwei geküsst haben, war traurig, wenn ein Kind im Haus gegenüber eine Ohrfeige bekommen hat und hat sich überlegt, ob sie der Frau im Haus gegenüber, die immer so allein beim großen Tisch sitzt, nicht doch einmal Gesellschaft leisten könnte. Vielleicht hat man der alten Frau bloß nie im Leben eine Chance gegeben, wirklich mitzuleben?
Die Leute im Haus gegenüber wissen das nicht. Sie waren ja nie neugierig auf die alte Frau. Und Interesse an ihr hatten sie schon gar keines.
Zweisames Miteinander
Frau Meier fühlt sich übergewichtig und will abnehmen. Um dies in die Wege zu leiten, beschließt sie, für einige Zeit auf das Nachtmahl zu verzichten. Doch leider muss sie das abendliche Fasten nach drei Tagen einstellen, denn da gibt es ja auch noch den Herrn Meier, und der fühlt sich nicht übergewichtig und hasst es zudem, »ohne Begleitung« Nahrung aufnehmen zu müssen. So ganz vaterseelenallein macht ihm das beste Essen keinen Spaß! Also schöpft sich Frau Meier nun am Abend wieder den Teller voll und isst ihn brav leer, denn eine gute Ehefrau ist schließlich nicht dazu da, dem Ehemann den Spaß am Essen zu nehmen.
An Samstagen, wenn sie verregnete sind, würde Frau Meier gerne die Wohnung gründlich sauber machen, doch Herr Meier leidet sehr, wenn der Staubsauger brummt und die Möbel geruckt werden. Das erinnert ihn an den Putzfimmel seiner Frau Mutter, und unter dem hat er schon als Knabe fürchterlich gelitten. Also lässt Frau Meier den Samstagputz sein, denn eine gute Ehefrau ist schließlich nicht dazu da, beim Ehemann ein altes Kindheitstrauma wieder aufleben zu lassen.
An Sonntagen, die sonnige sind, würde Frau Meier gerne ins Bad fahren. Doch Herrn Meiers Haut ist eine sehr zarte und rötet schnell. Sogar im Halbschatten! Also verzichtet Frau Meier auf den Badeausflug, denn eine gute Ehefrau ist schließlich nicht dazu da, dem Ehemann einen Sonnenbrand auf den Buckel zu laden.
Frau Meier würde auch gern an warmen Sommerabenden ein wenig spazieren gehen oder in einem Schanigarten sitzen und ein kleines Bier trinken. Doch Herr Meier sieht im »Herumrennen« keine Bereicherung seines Lebens, und sein Bier
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