Eine Freundschaft im Winter
Freiheit wollte, die Reißleine zu ziehen, wenn es ungut wurde, ohne eine teure Scheidung hinter sich bringen zu müssen und möglicherweise ihr Haus zu verlieren. Vor allem wollte sie sich nicht abhängig machen. Es musste doch auch einen Mittelweg geben, bei dem man ein gesundes Sexleben haben, Aufrichtigkeit und vielleicht sogar Liebe vom Partner erfahren, und trotzdem ein eigenständiger Mensch bleiben konnte.
Lisa überlegte kurz, das Laken zu wechseln, entschied sich dann aber, dass der Aufwand so früh am Morgen zu groß war. Sie zog sich einen frischen Flanellpyjama an, setzte sich auf die Bettkante und warf einen Blick aus dem Fenster auf den Trailer nebenan. Sie hoffte inständig, dass keiner ihrer Freunde gesehen hatte, wie Cody verschwunden war.
»Zwinger« nannten sie den Trailer und seine verrückten Anbauten. Der Name rührte daher, dass dort genauso viele Menschen wie Hunde lebten. Hans hatte eine brennende Kerze in seinem Fenster stehen, und auch bei Tom flackerte eine. So ließen sie einander wissen, dass sie gerade Damenbesuch hatten.
Als Lisa in der siebten Klasse und Tom in der achten gewesen war, war einer seiner Freunde in der Pause zu ihr gekommen und hatte gesagt: »Tom will wissen, ob du mit ihm gehst.«
»Wohin soll ich mit ihm gehen?«, fragte sie gutgläubig.
»Du weißt schon – mit ihm gehen . Seine Freundin sein«, erklärte sein Freund ihr.
Lisa zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, das geht in Ordnung«, sagte sie. Es war ihr irgendwie egal.
Doch später am Abend malte sie sich aus, wie Tom ihre Hand halten und beim nächsten Schulball eng umschlungen mit ihr tanzen würde. Sie stellte sich sogar vor, dass er ihr Kissen wäre, und küsste es inbrünstig. Am nächsten Morgen war sie regelrecht verrückt nach ihm. Sie nahm sich viel Zeit, sich zu frisieren, und überlegte genau, was sie anziehen wollte. Zufrieden mit den Früchten ihrer Bemühungen, ging sie voller Erwartung zur Schule. Sie hatte einen älteren Freund – einen echt coolen älteren Freund.
Lässig schlenderte sie zu ihrem Spind und hielt beiläufig nach Tom Ausschau. Sie war enttäuscht, dass er nicht schon dort auf sie wartete. Sie dachte, er würde ihre Hand nehmen und sie zur ersten Stunde begleiten. Darum ging es doch, wenn man miteinander ging – zumindest glaubte sie das. Als er nicht kam, gab sie auf, nahm Bücher und Mappe aus dem Spind und ging los. Sie hatte ihr Klassenzimmer beinahe erreicht, als sie Tom vor dem Raum nebenan sah. Er hielt Deanna Smiths Hand. Und bevor sie sich voneinander verabschiedeten, gab er ihr sogar einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Dann verschwand Deanna im Klassenzimmer. Tom bemerkte sie und blickte ihr für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen. Sie sah Angst und Scham über sein Gesicht huschen, als er sich eilig umdrehte und in die andere Richtung davonlief. Von da an ging er ihr aus dem Weg.
Daran hatte sich die nächsten drei Jahre nichts ändern sollen, bis er in die elfte und sie in die zehnte Klasse gegangen war und er sie gefragt hatte, ob sie ihm bei einem Basketballspiel zusehen und anschließend mit ihm tanzen gehen würde. Und sie hatte ihm geantwortet, er solle zur Hölle fahren.
Natürlich erzählte Tom den Leuten diese Geschichte, wenn sie danach fragten, wie lange er und Lisa schon Freunde seien, und verschwieg, was dem vorausgegangen war. Er schloss mit den Worten: »Und das war der Beginn einer langen und wun derbaren Freundschaft. Übrigens meiner einzigen Freundschaft mit einer Frau – weil ich diese nicht vermasseln konnte.« Lisa hingegen setzte dem nichts entgegen. Sie tat so, als könnte sie sich an nichts erinnern.
Auf Lisas Nachttisch lagen zwei gerahmte Fotos mit dem Gesicht nach unten. Eines zeigte ihre Eltern, und das andere war ein Bild ihrer Großeltern. Sie drehte sie immer um, wenn sie einen Mann mit nach Hause brachte. Jetzt streckte sie den Arm aus und stellte sie behutsam wieder auf. Als sie ihrer Mutter in die Augen sah, fragte sie sich, ob ihr Status als Ehefrau all das rechtfertigte, was sie durchgemacht hatte. Sie fragte sich, was sie wohl aufgegeben haben mochte, um diesen Weg zu gehen. Welche Träume sie gehabt und wie sie es geschafft hatte, mit einem Mann zusammenzubleiben, der sie betrogen hatte. Wie wäre es ihrer Mutter mit einem Leben wie dem ihren ergangen? Mit einem Leben ohne diese eine Liebe; mit einem Leben, in dem man sich damit arrangierte, respektlos von Männern mit Bindungsängsten behandelt zu
Weitere Kostenlose Bücher