Eine Freundschaft im Winter
während der zwei Jahre angemietet hatte, in denen sie hier gelebt hatte. Sie war so zerbrechlich und dünn gewesen, als sie bei ihm eingezogen war. Onkel Howard hatte ihre Mutter damals überzeugen können, dass Jills Interesse am Skifahren geweckt werden müsse und sie ganz von allein wieder essen würde, wenn sie nur nach Sparkle käme. In Wahrheit hatte er genau gewusst, dass sie Abstand zu ihren Eltern brauchte, um wieder auf die Beine zu kommen. Und nun war sie wieder hier.
Nachdem sie mit dem College begonnen hatte, war Onkel Howard wieder in seine Einzimmerwohnung unterhalb der Skihütte auf dem Sparkle Mountain gezogen. Er lebte dort oben wie ein Eremit, hatte allerdings die Aufgabe, zu messen, wie viel Neuschnee gefallen war, das Thermometer abzulesen und die Windstärke zu prüfen, die Gefahr für Lawinenabgänge abzuwägen und all diese Informationen weiterzugeben, damit ein täglicher Schneebericht veröffentlicht werden konnte. Ein paar Schritte von seiner Wohnung entfernt führte eine Tür zum Generatorraum unter der Lifthütte. Darin befanden sich mehrere Regale mit sorgfältig ausgewählten Büchern, ein Tisch und zwei Stühle. Onkel Howard war berühmt-berüchtigt für seine Bibliothek. Sie fragte sich, welches Buch er diesmal aus dem Regal nehmen würde, damit sie es las. Ganz so, wie ein Arzt seinen Patienten Medizin verschrieb, verpasste Onkel Howard den Menschen die richtigen Bücher. Sein Gegenstück zur Schmerztablette war Siddhartha .
Doch jetzt brauchte Jill erst einmal Schlaf. In seiner winzigen Wohnung war kein Platz für sie, und auch in der Bibliothek könnte sie nicht übernachten, also fuhr sie weiter zu Lisa. Immerhin hatte Lisa ihr eine Couch zum Schlafen angeboten.
Sie hielt vor dem gelben Haus im viktorianischen Stil, in dem Lisa aufgewachsen war. Ihr Vater war der Küchenchef und Manager eines schicken italienischen Restaurants in der Sparkle Lodgegewesen. Aber nachdem er vor ein paar Jahren gestorben war, hatte Lisas Mutter ihr das Haus verkauft und war nach Florida gezogen. Es hatte sich fast nicht verändert, obwohl die Zitterpappeln im Garten ein gutes Stück gewachsen waren. Nebenan stand der alte Trailer, den Lisa immer für einen Schandfleck gehalten hatte. Er schien baufälliger als vor zehn Jahren, hatte eigenwillige Anbauten bekommen, und überhaupt parkten noch mehr Fahrzeuge auf dem Grundstück.
Ehe sie aus dem Wagen stieg, nahm Jill ihr Handy aus der Handtasche und klappte es auf. Eine lange Liste von verpassten Anrufen von David erschien. Die vierundzwanzig Stunden, die Jill geblieben waren, ohne bei der Polizei als vermisst gemeldet zu werden, waren beinahe um, doch sie wollte noch immer nicht mit ihm reden. Er hatte ihr auch Textnachrichten geschickt. Sie las die letzte SMS .
Ich rufe jetzt bei der Polizei an. Die Bank hat angerufen und von ungewöhnlichen Abbuchungen über die Kreditkarte berichtet, also habe ich sie sperren lassen. Jemand hat mit deiner Karte ein Auto gekauft! Ich mache mir solche Sorgen, dass du überfallen und entführt worden bist oder gar noch etwas Schlimmeres passiert ist … Bitte, Jill, wenn du diese Nachricht liest, melde dich, damit ich weiß, dass du noch am Leben bist.
Sie war sich nicht sicher, was sie tun sollte. Wenn die Polizei eingeschaltet werden sollte, war es vermutlich an der Zeit, die Sache richtigzustellen. Sie drückte auf »Antworten« und schrieb:
Der Lexus ist kaputt und in der Werkstatt. Sie hätten dich gestern anrufen sollen. Ich habe den Wagen mit unserer Kreditkarte gekauft. Ich bin nicht überfallen worden. Ich lebe noch. Ich musste nur weg.
Sie durchsuchte ihre Handtasche und fand achtundvierzig Dollar und dreiundvierzig Cent Bargeld. Die inzwischen nutz losen Bankkarten nahm sie aus ihrem Portemonnaie. Sie konnte keinen Ersatz bekommen, denn eine neue Karte konnte nur an ihre Rechnungsadresse geschickt werden. Im Augenblick war sie sich nicht sicher, wie sie dieses Problem lösen sollte. Aber ihr würde schon etwas einfallen. Jetzt rief sie erst einmal ihren Vorgesetzten an und bat ihn, den letzten Gehaltsscheck an Lisas Adresse in Colorado zu schicken. Es war zwar nur das Gehalt für einen dreiviertel Tag Arbeit, doch im Moment zählte jeder Penny.
Sie holte tief Luft, stieg aus dem Auto und ging den kleinen Anstieg zu Lisas Veranda hinauf. Die Sonne hatte den Schnee auf dem Weg schmelzen lassen. Das war gut, denn sie hatte keine Stiefel an – nur ihre Schwesternschuhe. An einer kurzen Wäscheleine
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