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Eine für alle

Eine für alle

Titel: Eine für alle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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Platzanweisern zuvorkam.

3
    Schlacht am Büfett
    Ich sackte in die Loge, als Michael eben wieder mit Or' auf die Bühne kam. Lotty hörte mich keuchen und wandte sich mir zu, mit hochgezogenen Augenbrauen. »Musst du denn in der Pause unbedingt einen Marathonlauf machen, Vic?«, murmelte sie unter der Deckung des höflichen Beifalls.
    Ich machte eine wegwerfende Geste. »Zu kompliziert, als dass ich das jetzt erklären könnte. Dick ist hier, mein alter Kumpel Dick.« »Und das hat deinen Puls so zum Rasen gebracht?« Ihre ät zende Ironie ließ mich rot anlaufen, aber ehe mir eine bissige Replik einfiel, begann Michael mit seiner Ansprache.
    In ein paar schlichten Sätzen erklärte er, was seine Familie den Bürgern Londons schulde, weil sie sie aufgenommen hatten, als Europa zu einem Höllenschlund geworden war, in dem sie nicht überleben konnten. »Und ich bin stolz darauf, dass ich in Chicago aufgewachsen bin, wo die Herzen der Menschen sich ebenfalls rühren lassen, um denen zu helfen, die - aus Gründen der Rasse, der Stammeszugehörigkeit oder der Religion - in ihren Heimatländern nicht mehr leben können. Heute Abend spielen wir für Sie die Uraufführung von Or' Nivitskys Konzert für Oboe und Cello mit dem Titel Der wandernde Jude, dem Gedächtnis von Theresz Kocsis Loewenthal gewidmet. Theresz hat Chicago Settlement leidenschaftlich unterstützt; sie wäre sehr bewegt, wenn sie sehen könnte, wie Sie dieses wichtige Wohltätigkeitsprojekt fördern.«
    Es war eine einstudierte Rede, schnell und wegen der Kälte des Publikums ohne Wärme gehalten. Michael verbeugte sich leicht, erst in Richtung unserer Loge, dann vor Or'. Die beiden setzten sich. Michael stimmte das Cello, dann schaute er Or' an. Auf ihr Nicken hin fingen sie an zu spielen.
    Max hatte recht. Das Konzert hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der atonalen Kakophonie von Or's Kammermusik. Die Komponistin hatte auf die Volksmusik des jüdischen Osteuropa zurückgegriffen, um diese Themen zu finden. Die Musik, seit fünf Jahrzehnten vergessen, wurde auf aufregende Weise wieder lebendig, als Cello und Oboe sich zögerlich einander annäherten. Ein paar durchdringende Augenblicke lang schienen sie sich in einem gemessenen Wechselspiel zu finden. Die Harmonie riss unvermittelt ab, als aus der Antiphon Feindseligkeit wurde. Die Instrumente bekämpften sich so heftig, dass ich Schweiß auf den Schläfen spürte. Sie stiegen zu einer wahnsinnigen Klimax an und verstummten dann. Selbst dieses unmusikalische Publikum hielt den Atem an, als beide auf diesem Höhepunkt eine Pause machten. Dann jagte das Cello die Oboe ins Entsetzen, und danach kam ein grauenhafter Friede, die Ruhe des Todes. Ich packte Lottys Hand, unternahm keinen Versuch, meine Tränen zu unterdrücken. Wir konnten beide nicht in den Beifall einstimmen.
    Michael und Or' verbeugten sich kurz und verschwanden von der Bühne. Obwohl das Klatschen eine Weile andauerte, fehlte der Reaktion der vitale Funke, der gezeigt hätte, dass das Publikum begriffen hatte. Die Musiker kamen nicht zurück, sondern schickten den Kinderchor auf die Bühne, der zum Abschluss des Konzerts Lieder sang. Wie Lotty war auch Max erschüttert vom Konzert seines Sohnes. Ich bot an, sofort das Auto zu holen, aber sie wollten noch zum Empfang bleiben.
    »Weil es Theresz zu Ehren ist, würde es merkwürdig aussehen, wenn Max nicht dabei wäre, wo Michael noch dazu sein Sohn ist«, sagte Lotty. »Aber wenn du gehen willst, Vic, können wir ein Taxi nach Hause nehmen.«
    »Unsinn«, sagte ich. »Ich behalte euch im Auge - gebt mir ein Zeichen, wenn ihr gehen wollt.«
    »Aber vielleicht siehst du Dick wieder - bist du der Aufregung gewachsen?« Lotty gab sich große Mühe, mit Sarkasmus ihre Betroffenheit zu überspielen. Ich küsste sie auf die Wange. »Ich komm schon zurecht.«
    Das war das Letzte, was ich für längere Zeit von ihr zu sehen bekam. Das Konzert war kaum zu Ende, als sich eine Menschenmenge in die Treppenhäuser ergoss. Max, Lotty und ich verloren uns im Gewühl. Statt mich durch die Massen zu schieben, um die beiden einzuholen, versuchte ich, sie von der Galerie aus ausfindig zu machen. Es war hoffnungslos: Max überragte Lottys eins zweiundfünfzig nur um eine Handbreit. Ich verlor sie innerhalb von Sekunden aus den Augen.
    Während der zweiten Konzerthälfte hatten Partylieferanten im Foyer ihre Sachen aufgebaut. Vier Tische, angeordnet zu einem riesigen Rechteck, waren mit schwindelerregenden

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