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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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einem »Streifen« ergattert – ist das nicht unglaublich? Dafür gibt es richtig gutes Geld. Du musst unbedingt Probeaufnahmen machen, wenn Du wieder da bist. Es ist kinderleicht – man braucht keinen Text zu lernen! Du hast genau das passende Gesicht dafür, außerdem ist das spaßig und macht nicht die geringste Mühe, gemessen an dem, was wir Abend für Abend auf der Bühne leisten –
    Lysander legte den Brief weg, er würde ihn später zu Ende lesen. Es ärgerte ihn, dass Blanche auf keine einzige seiner Fragen eingegangen war. Briefe waren doch dazu da, eine Art Zwiegespräch zu führen, sich gegenseitig auszutauschen – für Blanche schien es sich aber um eine Art Einbahnstraße zu handeln, sie gab einfach ihre Gefühle zum Besten und erzählte von sich, ohne im Geringsten zu berücksichtigen, was er ihr mitgeteilt hatte. Wenn er Blanche schrieb, hatte er stets ihren jüngsten Brief parat. Eine Korrespondenz lebte vom Dialog, Monologe – und seien sie noch so lebhaft und persönlich – waren nicht gerade interessant.
    Seine etwas gereizte Stimmung hielt an, als er zur Stadtbahnhaltestelle lief und eine Rückfahrkarte nach Ottakring löste. Während der kleine Zug seinem Ziel auf einer Zweigstrecke entgegentuckerte, sah Lysander auf Wiens westliche Vororte hinaus. Auf einmal hatte er keine Lust mehr, Miss Bull Modell zu stehen und sich von ihr zeichnen zu lassen – warum hatte er sich nur darauf eingelassen? Miss Bull war allerdings hartnäckig, man konnte ihr schwer widerstehen – so viel war ihm bereits klargeworden.
    In Ottakring zeigte er einem Fiaker die Adresse des Ateliers und stieg in die Kutsche. Sie klapperten weiter nach Westen, an Schrebergärten, Apfelplantagen und einem großen Friedhof mit Staketenzaun vorbei, bevor sie in einen schlammigen Feldweg einbogen. Der Fiaker hielt vor einem leuchtend scharlachrot gestrichenen Tor, Lysander stieg aus und entrichtete das bescheidene Fahrgeld. Er dachte bereits an die Heimreise: Vom Bahnhof aus war das natürlich kein Problem gewesen, aber wie sollte er dorthin zurückkehren? Er würde eine Stunde bleiben – keine Sekunde länger.
    Vom Tor aus führte ein Ziegelpfad zu einer alten Steinscheune am Rand einer baumbestandenen Weide, auf der zwei Shirepferde grasten. Der Scheuneneingang war von Blumentöpfen mit bunten Zinnien und Margeriten umstellt. Lysander drückte das Tor auf und löste damit eine laute Messingglocke aus, die an einer geschwungenen Metallstange montiert war. Miss Bull tauchte fast umgehend im Türrahmen auf und schüttelte ihm die Hand. Sie trug einen knielangen Leinenkittel, der mit Ton- und Gipsspritzern übersät war.
    »Sie sind es ja tatsächlich, Mr Lysander Rief. Ich kann es gar nicht glauben!«, rief sie und führte ihn in das Atelier.
    Die alte Scheune war zu einer geräumigen, fenster- und deckenlosen Bildhauerwerkstatt umgebaut worden. Man hatte einen großen Teil des Ziegeldachs durch Glasscheiben ersetzt. In einer Ecke stand ein großer, breiter Gusseisenofen mit einem hohen, schmalen Rauchrohr, das mehrfach gewinkelt bis zum Dach reichte. Tapeziertische reihten sich an einer Wand entlang, bedeckt mit Brettern und Töpfen und Holzblöcken von unterschiedlicher Größe. An einem Ende stapelten sich Innengerüste aus gebogenem Draht. In einer anderen Ecke befand sich eine Sitzgruppe – vier Rohrsessel um einen niedrigen Tisch mit bunter Decke und einem Krug Anemonen. Mitten im Raum stand auf einem hohen Drehbock die grobe, etwa neunzig Zentimeter große Tonskulptur eines kauernden Minotaurus – ein stumpfer Rinderkopf mit stummelartigen Hörnern, der einem massigen, muskulösen Leib aufgesetzt war. Daneben stand ein Podest, mit einem eigens zugeschnittenen Teppichstück ausgelegt. Lysander sah sich um.
    »Wunderbares Licht«, sagte er im Glauben, dies sei die passende Bemerkung beim Betreten eines Künstlerateliers.
    Als Miss Bull ihren Kittel ablegte, kamen eine cremeweiße Muselinbluse und ein wadenlanger schwarzer Sergerock zum Vorschein. An den Füßen trug sie Holzschuhe. Ihre zerzaustendunklen Haare waren nachlässig hochgesteckt, mit etlichen langen losen Strähnen. Nirgends waren Gemälde zu sehen.
    »Arbeitet Hoff auch hier?«, fragte Lysander.
    »O nein. Wir wohnen auf der anderen Seite des Feldes, einen knappen Kilometer entfernt. Udos Familiensitz. Wir haben versucht, zu zweit in seinem Atelier zu arbeiten, aber das war eine Katastrophe – wir haben uns nur gestritten. Darum habe ich diese alte Scheune

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