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Eine Hand voll Asche

Eine Hand voll Asche

Titel: Eine Hand voll Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jefferson Bass
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kostenloser Verbindungsweg für Menschen, die zu Fuß durchs Leben tappten.
    Als Roger den Honda durch die Innenstadt lenkte, staunte ich, wie viel länger und umständlicher als die Eisenbahnschienen unsere Route war. In den zehn Minuten, die wir brauchten, um mit dem Auto herzukommen, hätten wir die anderthalb Kilometer fast zu Fuß gehen können. In der Jackson Avenue kamen wir an dem ausgebrannten Gerippe eines alten Lagerhauses vorbei, das vor ein, zwei Jahren einem spektakulären Brand zum Opfer gefallen war. Vor dem Feuer war das Gebäude gelegentlich von Hausbesetzern bewohnt worden, die sich ein paar Wochen oder Monate dort niederließen, ehe sie von der Polizei auf Bitten der innerstädtischen Ladenbesitzer verscheucht wurden – ebenfalls für ein paar Wochen oder Monate. Den Block weiter hinauf, nahe der Ecke Jackson Avenue und Gay Street – Knoxvilles Hauptstraße –, hielt Roger vor einer Ladenfront, auf der »Volunteer Ministry Center« stand. Ich linste hinein und sah zwei ungepflegte Männer und eine junge Frau, die an einem Computer arbeitete. »Das ist der Tagesraum«, sagte Roger. »Hier kommen Menschen her, die eine Mahlzeit brauchen oder einen Ort, wo sie sich tagsüber aufhalten können. Oder sie schreiben sich in ein Programm ein, das ihnen hilft, mit ihrer Drogen- oder Alkoholabhängigkeit fertig zu werden.«
    »Nicht viel los«, sagte ich. »Sieht ziemlich klein aus.«
    »Es ist viel größer als das, was man durchs Fenster sehen kann«, sagte er. »Sie haben hinten einen großen Speisesaal und weitere Aufenthalts- und Seminarräume und unten einen Hof. Gut möglich, dass sich innen fünfzig oder hundert Menschen aufhalten, von denen Sie hier draußen nichts sehen können.«
    Die junge Frau blickte vom Computer auf und musterte die Geländelimousine, die vor dem Tagesraum geparkt hatte. Sie richtete den Blick zuerst auf mich und dann auf Roger, und als sie ihn erkannte, lächelte sie. Selbst durch die rußige Fensterscheibe sah ich auf ihren Wangen ein Paar Weltklassegrübchen. Sie winkte, schob ihren Stuhl zurück und kam nach draußen, wo sie sich durch mein offenes Fenster beugte, um mit Roger zu plaudern. Sie trug einen Dienstausweis mit ihrem Foto, ihrem Namen und den Buchstaben VMC.
    »Bill, das ist Lisa, sie leitet den Tagesraum. Lisa, dies ist Dr. Bill Brockton, forensischer Anthropologe an der University of Knoxville. Er versucht, ein Mordopfer zu identifizieren.« Sie schüttelte mir durchs offene Fenster die Hand und ließ ihr nettes, von Grübchen gerahmtes Lächeln aufblitzen. Ich vergaß beinahe, welche Frage ich ihr hatte stellen wollen.
    »Wenn einer dieser Menschen verschwinden würde«, sagte ich schließlich und wies in den Tagesraum, »wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihn jemand vermissen würde?«
    Darüber musste sie nicht lange nachdenken. »Kennen Sie das alte Gleichnis über den Baum, der im Wald umstürzt? Wenn niemand da ist, der es hört, macht er dann trotzdem ein Geräusch? Die meisten von denen haben niemanden, der hört, wenn sie umstürzen. Sie fallen den Menschen eher ins Auge, wenn sie nicht vermisst werden – wenn sie durch die Straßen laufen, unter einer Brücke schlafen oder betteln. Wenn ein zerlumpter alter Kerl nicht mehr an Ihrem Laden in der Innenstadt oder Ihrer Wohnung vorbeiläuft, sind Sie wahrscheinlich dankbar, dass er weitergezogen ist.« Ich nickte; so würden wohl neunundneunzig von hundert Menschen denken. Hinter uns hupte ein Auto, also verabschiedeten wir uns. Sie lächelte ein letztes Mal, während sie winkte. Ihr Lächeln war vermutlich das Schönste, was die meisten im Tagesraum heute zu sehen bekommen würden. Am liebsten hätte ich selbst eine Zeitlang dort abgehangen, nur wegen dieses Lächelns. Doch Roger fuhr bereits vom Bordstein los.
    An der Kreuzung Jackson Avenue und Gay Street bog er rasch rechts ab und fuhr durch einen Block mit gehobenen Miet- und Eigentumswohnungen, die in Backsteinlagerhäusern mit hohen Decken und Ladengeschäften aus den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts untergebracht waren. Manche dieser schicken städtischen Wohnungen kosteten eine halbe Million Dollar und mehr, und ich konnte mir eine ironische Bemerkung über ihre Nähe zu dem Tagesraum für die Obdachlosen nicht verkneifen.
    »Das ist nicht alles«, sagte Roger und zeigte auf das Gebäude direkt an der Ecke. »In dem Haus da drüben hat das Volunteer Ministry Center sechzehn Wohnungen« – Übergangsbleiben für

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