Eine Hand voll Asche
Menschen, die versuchten, wieder auf die Beine zu kommen, wie er mir erklärte. Der Rest des Blocks bestand aus schicken Eigentumswohnungen, Galerien, Designerläden und einem trendigen Sushi-Restaurant. Die Kundschaft für die Läden kam vermutlich eher aus den Lofts und den Eigentumswohnungen und nicht aus dem Tagesraum oder den Übergangswohnungen. »Wie Sie sehen können, sind das hier zwei sehr unterschiedliche Welten«, sagte er, »und diese Welten kollidieren so gut wie jeden Tag. Bei der Polizei gehen viele Beschwerden von Ladenbesitzern und Anwohnern ein. Manchmal sind sie berechtigt – aufgebrochene Autos, Betrunkene, die die Toilette oder das Telefon benutzen wollen. Doch manchmal ist es auch reine Schikane – die Besitzenden wollen, dass die Besitzlosen weggejagt werden.«
»Wohin?«
»Das ist das Problem«, sagte er. »Es kann sich zum Hütchenspiel auswachsen. Sie werden aus der Innenstadt verjagt, also ziehen sie den Broadway rauf, in Richtung des Kroger und der Pfandleihhäuser. Oder nach Westen zu den Fernfahrerlokalen an der Lovell Road. Oder sie hängen auf Grünstreifen und unter Brücken herum. Hier, ich zeig’s Ihnen.« Er bog noch zweimal rechts ab und fuhr in Richtung Norden auf den Broadway. Als wir unter der achtspurigen Brücke durchfuhren, welche die I-40 an der Innenstadt vorbeiführte, und meine Augen sich an die Schatten gewöhnt hatten, entdeckte ich im Dämmerlicht zwanzig oder dreißig Menschen – einige standen in Grüppchen auf dem Gehweg, einige saßen auf einer niedrigen Mauer am Rand, andere streckten sich auf dem kahlen Boden dahinter aus. Einige hatten Rucksäcke, Matchbeutel oder Mülltüten mit ihren Habseligkeiten dabei; andere hatten nichts als die schmuddeligen Kleider, die sie am Leib trugen. Ein paar schauten zu uns herüber, als wir langsam vorbeifuhren; einige achteten gar nicht auf uns, denn sie waren auf ein Gespräch mit anderen konzentriert oder auf die Stimmen in ihrem Kopf; andere schliefen oder blickten ins Leere. »Den Geschäftsleuten hier unten gefällt das absolut nicht«, meinte Roger und wies nickend auf ein Farbengeschäft und eine Firma, die mit Industriepumpen handelte. »Bis auf den Lebensmittelladen«, er zeigte auf einen kleinen Laden, der mir noch nie aufgefallen war und dessen Fenster mit einem stabilen Stahlgitter geschützt war, »der jede Menge Bier absetzt.«
Als wir unter dem Schatten der Brücke hervorrollten, kamen wir zu den Sozialdiensten. Auf der westlichen Seite des Broadway hatte die Heilsarmee einen großen Secondhandladen – in diesem Laden hatten im Laufe der Jahre viele meiner Doktoranden billige Kleider, gebrauchte Möbel oder ramponierte Küchengeräte gekauft. Hinter dem Secondhandladen lagen weitere Gebäude – Büros und ein modernes Haus, das nach einem Wohnheim aussah. Strenggenommen beherbergte die Heilsarmee keine Stadtstreicher oder Durchreisenden, erklärte Roger mir. Wie das Volunteer Ministry Center stellte die Heilsarmee Übergangswohnungen zur Verfügung, für Familien in Krisensituationen oder Menschen, die an der »Operation Bootstrap« teilnahmen, einem Sechs-Monats-Programm, das den Leuten helfen sollte, ihre Drogen- oder Alkoholprobleme in den Griff zu bekommen und eine neue Arbeit zu finden. »Die Bootstrap-Leute treiben sich im Allgemeinen nicht auf der Straße herum oder hängen tagsüber irgendwo ab«, sagte Roger. »Sie nehmen an Kursen teil oder arbeiten.«
Auf der anderen Straßenseite, gegenüber der Heilsarmee lag das Knox Area Rescue Ministry, das Roger mit dem Akronym KARM abkürzte. Da fehlt nur ein Buchstabe zu » Karma «, dachte ich. KARM hatte eine alte Kirche renoviert und das Schulgebäude zu einem Nachtasyl mit über zweihundertfünfzig Betten umgebaut, dem Lazarus House. »Das Nachtasyl öffnet erst gegen Abend«, sagte Roger, »von denen unter der Brücke warten sicher viele darauf. Die Polizei kommt alle zwei Stunden vorbei und scheucht die Leute auseinander, aber fünf Minuten später finden sie sich wieder ein.«
Roger fuhr auf dem Broadway noch ein paar Blocks nach Norden, dann bog er links auf die Central Avenue, eine weitere Verkehrsader, die aus der Innenstadt hinausführte. Ähnlich wie der Broadway war auch die Central Avenue ziemlich heruntergekommen, wenigstens auf diesem Abschnitt. In der Innenstadt dagegen war sie in den letzten zwanzig Jahren arg aufgehübscht worden; in die hundert Jahre alten Backsteingebäude waren Restaurants, Bars und Boutiquen eingezogen. Das
Weitere Kostenlose Bücher