12 Stunden Angst
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N och in der Dämmerwelt schwebend, die Schlaf und Wachsein trennt, schob Laurel eine Hand in den Spalt zwischen Bettgitter und Matratzenfedern und suchte nach dem Handy, ihrer Verbindung zum Leben. Das kalte Metall reizte ihren Tastsinn stark genug, dass sie erstarrte. Eine Millisekunde später war sie hellwach und drehte langsam den Kopf auf dem Kissen.
Die Bettseite ihres Ehemannes war leer. Es sah aus, als hätte Warren gar nicht neben ihr gelegen. Laurel widerstand dem Impuls, das Handy aufzuklappen und nachzusehen, ob sie eine SMS bekommen hatte. Stattdessen schob sie es zurück in sein Versteck, ehe sie sich aus dem Bett schwang und zur Schlafzimmertür huschte.
Der Flur lag verlassen da, doch sie hörte Geräusche aus dem Familienzimmer. Nicht den Lärm von Kindern, sondern etwas Anderes, Seltsames … merkwürdig dumpfe Schläge. Laurel eilte über den Flur und spähte durch die Tür. Auf der anderen Seite des offenen Raumes sah sie Warren in seinem Arbeitszimmer vor einer Wand aus Regalen. Ein halbes Dutzend medizinischer Lehrbücher lag zu seinen Füßen und auf dem roten Ledersofa neben ihm. Laurel beobachtete, wie er mit zornigen Bewegungen weitere Bücher aus den Regalen zog, sieben oder acht auf einmal, und sie auf die Couch warf. Sein kurzes rotblondes Haar stand wirr vom Kopf ab. Er schien die gleichen Sachen zu tragen wie gestern bei der Arbeit. Das bedeutete, er war vergangene Nacht tatsächlich nicht im Bett gewesen. An jedem anderen Tag hätte Laurel sich Sorgen darüber gemacht,doch heute schloss sie nur dankbar die Augen und eilte zurück ins Elternschlafzimmer.
Als sie das Bad betrat, schnürte Angst ihr die Kehle zu. Was sie jetzt tun musste, hatte sie seit Tagen vor sich hergeschoben, hatte vergeblich um Erlösung gebetet. Doch jetzt, nachdem sie beschlossen hatte, es hinter sich zu bringen, rebellierte irgendetwas in ihrem Innern. Der Verstand tut, was er kann, um unliebsame Realitäten zu verdrängen, ging es ihr durch den Kopf, oder sie wenigstens zu verschieben.
Laurel kniete sich vor das Waschbecken, griff in das Schränkchen und nahm eine Walgreens-Tüte heraus. Dann ging sie in die kleine Kabine, die die Toilette umschloss, verriegelte die Lattentür hinter sich, öffnete die Tüte und nahm eine Tamponschachtel heraus. In der Schachtel lag eine kleine Packung mit dem Aufdruck e.p.t., die Laurel am Nachmittag zuvor dort versteckt hatte. Mit zitternden Fingern zog sie eine Plastikhülle aus der Packung und riss sie auf. Sie nahm einen Teststab hervor, der dem ähnelte, der ihr nacktes Entsetzen bereitet hatte, als sie neunzehn Jahre alt gewesen war. Doch jetzt, in diesem Moment, war ihre Angst viel größer als damals, als sie ein unverheirateter, entdeckungsfreudiger Teenager war.
Laurel hielt sich den Teststab zwischen die Beine und versuchte zu urinieren, doch der Harn wollte nicht kommen. Mit einem Mal verharrte sie, lauschte. War da ein Geräusch gewesen? War jemand ins Bad gekommen? Eines der Kinder? Als sie kein Atmen und keine Schritte hörte, zwang sie ihren Verstand fort von der Gegenwart und zu dem Elternsprechtag, der für heute angesetzt war. Bei dem Gedanken an die ängstlichen, nervösen und auch zornigen Mütter, mit denen sie zu tun bekommen würde, rann ein warmer Schwall über ihre Hand. Sie zog das Teststäbchen aus dem Strahl, wischte sich die Hand mit Toilettenpapier ab und schloss die Augen, während sie zu Ende urinierte und zählte.
Laurel wünschte sich, sie hätte ihr geheimes Handy mit ins Bad genommen. Es war Wahnsinn, das Ding im Schlafzimmerliegen zu lassen, wo Warren im Haus war. Es war der pure Wahnsinn, das Handy überhaupt im Haus zu haben. Laurels Privathandy war ein zweites Motorola, identisch mit dem, das auf ihren Familienvertrag lief, jedoch mit einer anderen Karte, sodass Warren niemals eine Rechnung zu sehen bekam. Es war ein perfektes System geheimer Kommunikation – solange Warren nicht beide Handys zusammen sah. Trotz dieser Gefahr konnte Laurel die Vorstellung nicht länger ertragen, von ihrem geheimen Handy getrennt zu sein, auch wenn es in den vergangenen fünf Wochen keine einzige SMS mehr empfangen hatte.
Als ihr bewusst wurde, dass sie über dreißig hinaus gezählt hatte, öffnete sie die Augen. Das Teststäbchen besaß ein winziges, grün leuchtendes LCD-Display wie einer von diesen billigen Taschenrechnern. Es waren keine Verrenkungen mehr nötig, um anhand irgendwelcher Farbschattierungen zu erfahren, ob man
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