Eine Hand voll Asche
frischen Knochen sind nicht so regelmäßig«, sagte sie. »Sie wirken eher zufällig.« Sie schaute noch genauer hin. »Um den Knochenschaft herum sind sie eher spiralförmig, wie ein Korkenzieher, nicht wahr? Fast, als splitterte der Knochen auseinander, statt nur Risse zu bekommen.«
»Sehr gut«, sagte ich und überlegte, ob ich ihr das Video zeigen sollte, auf dem man sah, wie sich die Kopfhaut abschälte, kam jedoch zu dem Schluss, das sei doch zu viel der Anschaulichkeit. »Aus Ihnen wäre eine gute forensische Anthropologin geworden.«
Sofort war sie wieder auf der Hut – sie vermutete, dass ich in eine Richtung zielte, in die sie nicht gehen wollte. »Warum zeigen Sie mir das? Worauf wollen Sie hinaus?«
»Dieser Unterschied in der Bruchstruktur von trockenen und frischen Knochen könnte in einem Mordfall wichtig sein«, sagte ich. »Nein, nicht ›könnte‹, er ist in einem Mordfall wichtig. Deswegen musste ich das Experiment durchführen. Der Unterschied verrät uns, ob das Opfer lebendig verbrannt ist oder ob es schon eine Weile tot war.« Sie runzelte die Stirn. »Die Polizei und die Staatsanwaltschaft überlegen just in diesem Augenblick, ob sie in diesem Fall jemanden des Mordes anklagen.« Möglich, dass ich den Bogen überspannte, aber ich beschloss, noch nachdrücklicher zu werden. »Sagen Sie mir die Wahrheit, Amanda«, fuhr ich fort. »Wenn ich zu Ihnen gekommen wäre und Ihnen dieses Experiment beschrieben hätte – in der Nacht zwei Autos in Brand setzen, mit Leichen und amputierten Gliedmaßen darin –, wie lange hätte es gedauert, bis ich die notwendigen Genehmigungen bekommen hätte? Wochen? Monate? Ewig?«
Sie zuckte die Achseln und hob in einer unentschlossenen Geste die Hände, entweder unfähig oder nicht willens, darauf eine Antwort zu geben.
»Lassen Sie mich Ihnen noch eine Frage stellen«, sagte ich. »Sie sind jetzt seit, wie lange, fünf oder sechs Jahren hier?«
»Sieben«, sagte sie.
»Als Sie herkamen, war die Body Farm schon eine feste Einrichtung. Wenn dem nicht so wäre … Wenn ich heute zu Ihnen käme und sagte: ›Hören Sie, ich glaube, wir müssen ein Stück Land abtrennen, wo wir Leichen ablegen und untersuchen, was mit ihnen während der Verwesung passiert‹, was würden Sie dann sagen?«
»Offen gestanden, würde ich sagen, Sie spinnen«, fuhr sie mich an. Und dann veränderte sich ihre Miene, und sie lachte. »Und damit hätte ich wohl auch recht.«
Ich lachte ebenfalls. »Vielleicht«, sagte ich. »Aber die Polizei und das FBI und die Kriminalpolizei denken das nicht. Das heißt, vielleicht denken sie es auch, aber unsere Forschungsergebnisse sind ihnen doch sehr willkommen, denn sie helfen ihnen bei der Aufklärung von Verbrechen. Ist das nicht eine kaputte Windschutzscheibe oder hin und wieder eine Rüge der Flugsicherheitsbehörde wert?«
Sie warf mir einen strengen Blick zu, der – zumindest teilweise – Schau war. »Bitten Sie mich um Erlaubnis, die Regeln zu brechen? Die kann ich Ihnen nicht erteilen.«
»Nein«, sagte ich. »Keine Erlaubnis. Nur ein bisschen Verständnis. Und vielleicht hin und wieder Vergebung.«
Sie atmete tief ein und stieß die Luft mit geschürzten Lippen aus. »Ich fahre nächste Woche ans Meer in Urlaub«, sagte sie. »Würden Sie mir versprechen, dass Sie versuchen – dass Sie sich ganz große Mühe geben –, für den Rest dieser Woche keinen Ärger mehr zu machen?«
Ich hielt die Schwurfinger der rechten Hand hoch, den kleinen Finger gekrümmt und unter die Daumenspitze geklemmt. »Mein Ehrenwort«, sagte ich.
»Also gut, meinetwegen«, sagte sie und zögerte dann. »Es gibt da noch etwas«, sagte sie ein wenig steif.
»Habe ich sonst noch was verbrochen?«
»Nein«, sagte sie, »keine Sorge. Es ist eher so, dass ich etwas falsch gemacht habe. Als Dr. Carter umgebracht wurde …« Ich erstarrte, und sie zauderte, möglicherweise wegen dem, was sie in meinem Gesicht sah, als sie den Mord an Jess erwähnte. »Ich war zu voreilig … Ich habe nicht einmal in Betracht gezogen, dass Sie unschuldig sein könnten«, sagte sie.
»Sie meinen, als Sie mich ins Exil geschickt haben? Mir sagten, ich dürfe den Campus nicht mehr betreten?« Ich hatte nicht gewollt, dass meine Worte bitter klangen, doch sie kamen so heraus. Jess war nicht nur eine kluge und fähige Medical Examiner gewesen, sondern auch eine liebenswerte und lebendige Frau, und ich war gerade dabei gewesen, mich in sie zu verlieben, als sie ermordet
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