Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
Die Erinnerungen kommen wie die Wellen des Meeres
A m Strand entlang spazieren wir Hand in Hand durch den warmen Sand bis zu unserem Lieblingsrestaurant mit Blick zum Jachthafen Puerto Banús. Die frühe Abendsonne taucht die Küste in ein hellgelbes Licht; wir freuen uns schon darauf, gleich in dem Lokal einzukehren und bei einem Glas Vino tinto den Sonnenuntergang zu beobachten, während wir uns eine Paella schmecken lassen.
Klaus und ich verbringen den dritten Winter in Marbella an der Costa del Sol. Es ist Anfang Dezember und zu Hause regnet es aus einem grau verhangenen Himmel, wie mir Aylin, meine Tochter aus zweiter Ehe, heute am Telefon erzählte. Während ich beim Gehen die Muscheln im Sand betrachte – zum Sammeln habe ich in den nächsten Wochen noch genügend Zeit –, sehe ich Aylin vor mir, ihr braunes Haar, das hübsche schmale Gesicht, die dunklen Augen. Darüber die Brauen, zornig zusammengezogen. »Du bist so egozentrisch. Nie hast du Zeit für mich, wenn es mal wichtig ist!« Aylin ahnt nicht, wie hart ihre Worte mich getroffen haben. Meine Töchter sind mein Ein und Alles. Ich wollte immer für sie da sein, ihnen den Weg ebnen, sie mit einem guten Polster an Mutterliebe und Kraft ausstatten, damit sie als starke junge Frauen ihren Weg finden. Katharina, die Ältere, hat inzwischen ihre eigene kleine Familie. Sie und ihr Mann teilen sich das Geldverdienen und die Versorgung der Kinder: eine moderne Ehe. Ich habe zwar auch immer gearbeitet, aber ich spürte die Verantwortung doch oft allein auf meinen Schultern. Erst mit Klaus habe ich einen Partner gefunden, der mir Sicherheit und Geborgenheit schenkt. Immerhin seit mehr als zwanzig Jahren. Er und Aylin sind in der Vergangenheit oft aneinandergeraten, zuletzt bei unserem Zusammentreffen im November, als Aylin uns in Hamm besuchte. Klaus hat sich immer eine Tochter gewünscht und hätte Aylin gern in seiner Firma gesehen. Doch sie fühlte sich mit der Büroarbeit nicht wohl und ist auch heute mit Anfang dreißig noch beruflich auf der Suche. Ich selbst mache mir Vorwürfe, dass ich ihr nicht zum Abitur verhelfen, sie in schulischen Dingen nicht besser unterstützen konnte. Heute weiß ich nicht, was ich noch tun soll. Zum einen mag sie schon lange keine Ratschläge mehr von mir annehmen, zum anderen wirft sie mir plötzlich vor, nicht für sie da zu sein. Unser kurzes Telefonat eben, in dem sie mir mitteilte, dass sie ihren Job gekündigt habe, endete abrupt, weil ich Aylin bat, lieber am nächsten Tag in Ruhe zu telefonieren; wir hatten einen Tisch reserviert. Ohne ein Tschüs legte sie auf.
»Na, immer noch in Gedanken bei Aylin?« Klaus drückt meine Hand in seiner.
»Irgendwann müssen die Kinder doch mal groß werden …«, sage ich und versuche unbekümmert zu lachen. Ich will diesmal keine endlose Diskussion mit Klaus, möchte uns unseren Ankunftsabend nicht verderben. Wir haben uns so auf den ersten Spaziergang an der Küste entlang und auf das Abendessen unter Palmen gefreut. »Lass uns über die nächsten Tage reden, was wollen wir unternehmen?«, frage ich. »Morgen erst mal im Meer baden?«
Klaus und ich lieben beide das Schwimmen, bummeln gern durch die spanischen Altstädte und genießen die Sonne und die Natur.
Nach einer Weile tauchen vor uns die beigefarbenen Sonnenschirme des Ana del mar zwischen den Palmenkronen auf.
» Buenas tardes, señora y señor Dahlhoff, qué tal ?« Pablo strahlt übers ganze Gesicht vor Freude, uns zu sehen. Er ruft seine Frau Ana, die uns ebenfalls sogleich begrüßt, führt uns zu einem eingedeckten Tisch und lässt uns vom Kellner frischen Orangensaft für mich und einen Sherry für Klaus servieren. Pablo hat also nicht vergessen, dass ich nur selten Alkohol trinke, und wenn, dann nur wenig.
Wir fühlen uns wie immer willkommen und prosten uns zu. Aylins Vorwurf, der mir jetzt wieder durch den Kopf geistert, schiebe ich mit aller Macht zur Seite, Grübeleien helfen nicht. Diesen ersten Abend in Spanien werde ich unbeschwert genießen und mich nicht schlecht fühlen. Klaus hat unsere Paella schon vorbestellt, sodass wir aus der Karte nur noch eine kleine Vorspeise wählen, etwas Iberico-Schinken, Käse und Oliven aus der Region sowie Brot, außerdem Wein zur Paella. Leise beginnt im Hintergrund eine Gitarre zu spielen.
»Die Paella mit Fleisch«, sagt der Kellner und legt erst mir, dann Klaus davon auf. Wie lange hatte ich diesen verlockenden bitter-würzigen Safranduft nicht mehr in der
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