Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
Nase? Während wir das Essen und den herrlichen Ausblick aufs Meer genießen, füllt sich das Lokal; bald ist kein einziger Tisch mehr frei. Die Gäste, vor allem die Spanier, unterhalten sich laut. Klaus und ich sind auch sonst kein Paar, das sich im Restaurant schweigend gegenübersitzt, aber das Lachen um uns herum und das Klingen der Gläser hebt unsere Stimmung. Es ist schon dunkel, die weißen Jachten und gekalkten Häuser von Puerto Banús, vor einer Weile noch von blauem Meer und graubraunem Berghang eingerahmt, strahlen nun hell erleuchtet im nächtlichen Schwarz.
»Bin gleich wieder da«, sage ich nach dem Essen, um mich kurz frisch zu machen und die Lippen nachzuziehen. Beschwingt erhebe ich mich aus dem Korbstuhl, greife nach meiner hellroten Lederhandtasche, die den gleichen Farbton wie mein Kleid hat, und wende mich zum hinteren Teil des Restaurants, als einer der Kellner wie aus dem Nichts vor mir steht. Im letzten Moment halten wir beide inne, sodass Schlimmeres ausbleibt. Schlimmeres für den Kellner, für andere Gäste. Nicht einmal ein Schreckensruf stört das fröhliche Lärmen.
Für mich jedoch könnte es nicht grausamer sein. Mein Blick haftet auf der schwankenden Silberplatte in der Hand des Kellners. Die weißen Augen eines großen Fisches starren mich an. Ich kann mich nicht bewegen, das Blut weicht mir rauschend aus dem Kopf. Mir wird kalt, winterkalt. Um mich herum ist augenblicklich Schnee, meterhoch. Ich stapfe mit Lumpen um die Füße, so schnell ich kann, hinter den anderen Kindern her. Mit meinen dünnen Beinchen klettere ich auf den Misthaufen an der Baracke vor uns. Hier gibt es jede Menge Abfälle. Gierig nagen wir Fleischreste von Knochen, stecken Kartoffelschalen und Brotenden ein. Dann der Blick durch das hell erleuchtete Fenster. Soldaten lachen, singen und tanzen zur russischen Musik. Keiner von ihnen entdeckt uns, sie sind viel zu sehr mit den Mädchen beschäftigt, die sie sich geholt haben. Ich recke den Kopf und sehe in einer Ecke einen nackten Mädchenkörper auf einem Tisch, das Gesicht hebt sich und angstgeweitete Augen blicken mich an, der Mund ist zum Schrei geöffnet. Im nächsten Moment stopft ein Soldat ihn mit einem Fischkopf, der Fischkörper mit dem Schwanz fegt hin und her, so sehr windet sich das Mädchen. Der Soldat steht ohne Hose vor dem Kind, hält es fest und stößt in es hinein.
»Monika, alles ist gut, setz dich.« Klaus hat mir seine Jacke umgelegt und hält mich im Arm, der Kellner mit der Fischplatte ist nicht mehr zu sehen. »Du zitterst ja am ganzen Leib, komm, trink erst mal einen Schnaps. Der wärmt.«
Doch der Alkohol kann weder die Kälte in mir noch die Übelkeit und das Unbehagen lindern. Ich erhole mich mühsam, möchte nur fort von hier, fort von den anderen Menschen. Ich schäme mich jedes Mal, wenn ich die Kontrolle verliere, und befürchte, man sieht mir an, welche Bilder sich meiner bemächtigen. Mit leerem Blick schaue ich über das dunkle Meer vor uns und lausche angestrengt auf das Rauschen, um all die Stimmen, das Lachen und die Musik endgültig zu vertreiben. Ich sehne mich danach, allein zu sein, und zugleich habe ich Angst davor. Die Erinnerungen werden wie das Wasser des Meeres in Wellen angespült, mal nähern sie sich langsam, dann türmen sie sich ohne Vorwarnung auf; sie reißen kraftvoll und unbarmherzig allen Grund mit sich, ziehen sich zurück in die Tiefe und sammeln sich noch mächtiger, um mit der nächsten Wallung erneut emporzusteigen, immer wieder so, als würden sie mir das allererste Mal ins Bewusstsein dringen.
Klaus begleicht die Rechnung. »Lass uns noch ein wenig durch die Altstadt bummeln, dann kommst du auf andere Gedanken.«
1940 bis 1944
Frühe Kindheit in Ostpreußen
I ch bin ein Kriegskind, im Krieg in Königsberg geboren und die ersten vier Jahre dort aufgewachsen. Meine Eltern wohnten in der Kneiphöfischen Langgasse, der prächtigen Hauptstraße im Stadtteil Kneiphof, wie eine Insel von zwei Flussarmen umgeben. Vor allem angesehene Kaufleute hatten nahe am Pregelufer mit seinen Schiffsanlegestellen und Speichern ihre Wohnungen und Geschäfte. Am gegenüberliegenden östlichen Ende des Kneiphofs überragte der Dom die Dächer. Erinnerungen an die Stadt habe ich kaum. Überhaupt weiß ich über meine ersten vier Lebensjahre nicht viel und besitze auch nur eine Handvoll inzwischen verblasster Schwarz-Weiß-Fotografien. Aber einige Bilder, Erlebnisse und Gefühle haben sich in mein Gedächtnis
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