Eine Handvoll Leben: Meine Kindheit im Gulag (German Edition)
nicht, wie viel Zeit verging, vielleicht nur Minuten, als auf einmal Mutter mit einem Fremden in der Kinderzimmertür stand. Er trug eine dunkelblaue Uniform, nicht so schön wie die meines Vaters. »Das ist Onkel Fritz. Sag guten Tag, Monika.« Ich stand schnell auf und wurde belohnt, denn Onkel Fritz schenkte mir eine Dose Schokolade. Früher hatte mein Vater immer welche mitgebracht, doch das war lange her. Ich wollte mich auf den Boden setzen und die Süßigkeit hervorholen, als Onkel Fritz sagte: »Nimm ein Stück, und dann pack den Rest schnell wieder ein. Wir müssen uns beeilen. Hörst du die Sirenen? Ich bringe euch fort von hier.«
Erst jetzt nahm ich das schrille Geheul und das dumpfe Krachen wieder wahr; laute Rufe von der Straße drangen zu uns in die Wohnung. »Fahren wir zu Oma und Opa … und Elsa?«, fragte ich, bevor ich mir von der Schokolade in den Mund schob.
»Jetzt komm erst mal, wir müssen los«, sagte Mama und holte meine Jacke.
»Oder fahren wir zu Oma Clausen? Ich habe sie so lange nicht gesehen. Sie hat ein Schmuckgeschäft, und bei ihr fallen sicher keine Bomben«, plapperte ich.
Onkel Fritz nahm mich auf den Arm, und ich zeigte ihm meine Goldkette, auf deren Anhänger neben einem Engelchen mein Name stand. »Die hat mir mein Papa gemacht«, erzählte ich. Onkel Fritz sah lächelnd auf die Gravur, aber ich spürte, wie unruhig er war. – »Charlotte, hast du eine Tasche mit den nötigsten Dingen gepackt?«
Mama nickte. »Ich muss nur noch den Schmuckbeutel holen. Und du, Monika, suche dir eine Puppe aus, die du mitnehmen möchtest.« Onkel Fritz setzte mich ab, und er und Mama verließen das Kinderzimmer.
Ich suchte in meiner Puppenecke Gerda, eine Puppe mit blonden Haaren. Die anderen Puppen hatten alle nur aufgemalte Haare. Gerda war nicht zu finden, ich schaute im Regal nach ihr, unter dem Bett, im Bett, unter dem Schrank, im Schrank … »Ich finde Gerda nicht!«, rief ich.
»Dann such dir eine andere aus. Aber schnell!« So hörte sich Mamas Stimme sonst nur an, wenn sie anfangen wollte, laut zu schimpfen. Auf der Stelle traten mir Tränen in die Augen.
»Monika, wo bleibst du denn?«, rief sie gereizt.
»Ich weiß aber nicht, welche …« Mein Schluchzen ließ Mama und Onkel Fritz, der ein Bündel Decken auf dem Arm hielt, zu mir eilen. »Ganz ruhig«, sagte sie jetzt sanfter. In ihrer Hand schaukelte der Samtbeutel von Oma Clausen.
Ich wischte mir die Tränen ab. »Was machst du denn mit Omas Schmuck?«
»Den nehmen wir mit. Und wenn mir etwas passiert, Monika, dann musst du ihn an dich nehmen und unter deinem Kleidchen verstecken. Hörst du? Es ist alles, was wir haben.«
Wieder stiegen Tränen in mir auf. »Was soll dir denn passieren? Gehst du auch in den Himmel?«
»Aber nein, mein Kind, nein, nein. Vergiss das alles ganz schnell wieder. Ich gehe nicht in den Himmel. Wir bleiben zusammen und kommen ganz bald wieder nach Hause.«
Ich schluckte die Tränen hinunter. Wirklich beruhigt hatten mich diese Worte aber nicht. »Und wo gehen wir jetzt hin?«
Ich sah zu dem Onkel auf, und jetzt erst bemerkte ich, dass sich das Bündel bewegte: Er hatte Peter auf dem Arm. Donnerndes Krachen, gefolgt von einem Bersten und gedämpften Schreien erfüllte den Raum. Das Haus bebte. »Los, Monika, die Jacke. Und wo sind ihre Stiefel, Charlotte, hast du auch warme Sachen für die Nacht dabei? Wir müssen hier raus! Sofort!« Onkel Fritz gab Anweisungen, und wir gehorchten. Mama brachte mir einen Waschlappen. »Hier, halt dir den vor den Mund, sobald wir draußen sind, es ist giftiger Rauch in der Luft.«
»Und lass die Hand deiner Mama unterwegs niemals los, verstanden!«, sagte Onkel Fritz. Dann liefen wir durch das Treppenhaus. Die alten Leute aus dem Parterre waren auf dem Weg in den Keller. »Hier können Sie nicht bleiben!«, rief Onkel Fritz ihnen nach. »Kommen Sie mit uns zum Bunker!« Doch der alte Mann antwortete, dass sie den Weg nicht schaffen würden, wir sollten uns aber beeilen, es wäre höchste Zeit.
Auf der Straße umgab uns beißender Nebel. Obwohl mir der kalte, wassergetränkte Lappen unangenehm war, tat ich, ohne zu zögern, was von mir verlangt worden war. Im ersten Moment sah ich nichts, dann graue Schatten, die hin und her liefen. Leute riefen, manche schrien. Ich hielt Mamas Hand, so fest ich konnte, dann rannten wir los.
»Vorsicht!«, brüllte Onkel Fritz, und im nächsten Moment schlug ein Stück Fenstersims vor uns auf dem Boden auf. »Kommt auf
Weitere Kostenlose Bücher