Eine hinreißende Schwindlerin
Wert ebenso gering schätzte wie alle anderen auch? Kein Wunder, dass sie zur Betrügerin geworden war.
„Lord Blakely?“, unterbrach Mrs. Davenport seine Gedanken. „Wird es zu einer Verurteilung kommen?“
„Ruhe“, fuhr er sie an. „Ich muss nachdenken.“
Doch da war mehr als nur Verzweiflung. Trotz der Kälte bei ihrer Erziehung war es Jenny gewesen, die stets das Beste in ihren Mitmenschen gesehen hatte. Es war Jenny gewesen, die Neds unverbrüchliche Treue und Lauras stille Kraft erkannt hatte. Sie hatte sogar etwas Gutes in Gareth gesehen, verdammt.
Ohne dass er ihr je Grund zur Hoffnung gegeben hätte, hatte sie gehofft. Und dass sie nicht gewillt gewesen war, diesen Schritt zu wagen – sich von ihm abhängig zu machen und ihn zu lieben, während er nur daran gedacht hatte, sie in irgendeine verstaubte Ecke seines Lebens zu schieben –, wie konnte er ihr das verübeln? Niemand hatte sie je so geschätzt, wie sie es verdiente. Am wenigsten Gareth.
Gareth war Wissenschaftler. Wenn sich die offensichtlichen Dinge zusammenfügten, ergaben sie oft eine so eindeutige Wahrheit, dass der Verstand sie nicht mehr abstreiten konnte. Jetzt, in diesem farblosen Raum, in Anwesenheit dieses grässlichen Drachens, dem die Blutgier nur so aus den Augen leuchtete, erkannte Gareth die Wahrheit.
Jenny war ihm nicht ebenbürtig. Sie war besser als er.
Und er war der größte Idiot der Welt. Denn Jenny hatte auch in sich selbst das Beste gesehen, und er hatte es schlecht gemacht, weil er sich nicht hatte eingestehen wollen, jemand könnte ihm überlegen sein. Am wenigsten die Frau, die er so sehr brauchte.
Plötzlich überkam ihn ein seltsames Gefühl der Schwerelosigkeit. Er hatte sich an seine Überlegenheit geklammert, als Rechtfertigung für jedes einzelne einsame Jahr seines Lebens. Aber wenn er nun gar nicht überlegen war? Der Gedanke hatte sich einst bedrohlich angefühlt, aber jetzt … Wenn andere Menschen besser waren als er, war er nicht annähernd so durch Lord Blakely eingeengt, wie er geglaubt hatte. Dann konnte er alles haben, was er sich einmal gewünscht und dann doch zur Seite geschoben hatte. Lord Blakelys Wichtigkeit schrumpfte, bis er nur noch ein Titel und ein Werkzeug war, kein unüberwindliches Hindernis mehr.
Wenn er das alles in Ordnung bringen wollte, musste er bei einem Menschen damit anfangen. Bei Jenny. Seiner Jenny.
Gareths Gliedmaßen begannen zu prickeln, als hätte sein Blut plötzlich wieder zu zirkulieren begonnen. Er baute sich vor Mrs. Davenport auf und fixierte sie mit seinem Blick.
Sie rieb sich triumphierend die Hände. „Wird man sie hängen? Und haben Sie schon beschlossen, was Sie tun werden?“
„O ja, ich weiß, was ich tun muss.“ Er wog die Mappe in seinen Händen. „Ich werde sicherstellen, dass Sie nie wieder von ihr sprechen.“ Er ging zum Kamin und warf die Mappe ins Feuer, ehe Mrs. Davenport ihn daran hindern konnte. Das trockene Papier ging sofort in Flammen auf. Mrs. Davenports entsetzter Aufschrei entlockte ihm ein zufriedenes Lächeln.
Jenny brauchte nicht sein Geld. Doch wenn er sich auf eine Sache gut verstand, dann darauf, anderen Respekt beizubringen. Diesen Schutz konnte er Jenny bieten. Er wollte verdammt sein, wenn er es zuließ, dass irgendjemand seine Jenny noch ein einziges Mal schlechtmachte.
„Jetzt hören Sie mir genau zu.“ Gareth beugte sich zu ihr. „Wie immer Sie über Jenny Keeble denken, Sie werden es für sich behalten. Wenn ich höre, dass Sie auch nur ein Sterbenswort über diese Frau verbreiten, werde ich Sie vernichten. Genau wie diese Schule und die Bank, die Ihnen einmal Ihre Pension zahlen wird. Dann werde ich ein Gericht bestechen, damit es Sie nach Australien in ein Gefangenenlager schickt. In ein Gefangenenlager für Männer . Zweifeln Sie nicht daran – das alles steht in meiner Macht.“
Sie wich erschrocken zurück. „Ich dachte, Sie wollten dieser Jenny Keeble das zuteilwerden lassen, was sie verdient!“
Gareth dachte kurz nach. „Ja, zufällig will ich genau das.“
Aber zuerst musste er zurück nach London fahren. Sofort.
Gareth brauchte niederschmetternde sechsundvierzig Stunden, um von Bristol nach London zurückzukehren. Trotz des Reisestaubs hielt er nicht bei sich zu Hause an, um sich umzuziehen. Stattdessen trug er seinem Kutscher auf, direkt zu Jennys Haus zu fahren. Tausende Schmetterlingsflügel flatterten in seiner Brust, als er aus der Kutsche sprang und kurz darauf mit der Faust an ihre
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