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Eine italienische Kindheit

Eine italienische Kindheit

Titel: Eine italienische Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Zapperi
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Jahren mein Lehrer in der fünfjährigen Grundschule. Alle unsere Schulbücher waren sehr stark, ich möchte sagen, geradezu obsessiv, von Propaganda durchtränkt. Das totalitäre faschistische Regime ließ keine Gelegenheit aus, um sein Credo den Menschen einzubläuen, vor allem den Kindern, die noch nicht viel vom Leben wussten. Dieses Credo verdichtete sich in Mussolinis Parolen, die überall verbreitet wurden und in großen Lettern auf allen öffentlichen Plätzen und Gebäuden zu lesen waren. Hier eine kleine Auslese der Sprüche, die in der Schule gern wiederholt wurden: «Credere, obbedire, combattere» (glauben, gehorchen, kämpfen); «noi tireremo dritto» (wir lassen uns nicht aufhalten); «chi mi ama, mi segua» (wer mich liebt, folge mir); «è l’ aratro che traccia il solco, ma è la spada che lo difende» (der Pflug gräbt die Furche, aber das Schwert verteidigt den Boden). Beliebt war auch das Verschen: «Libro e moschetto/Balilla perfetto» (Mit Buch und Gewehr ist der Balilla perfekt). Seiten über Seiten verherrlichten in unseren Fibeln die prahlerischen Taten des Duce, des großen Führers des italienischen Volks. Da war vor allem die berühmte «Kornschlacht», illustriert mit schönen Fotos, die den Duce auf der Dreschmaschine zeigten, aber er ließ sich auch als Bergmann, als Schwimmer, auf Skiern, zu Pferd und anders noch abbilden. Mein Lehrer widersetzte sich zäh solcher Propaganda, und es gelang ihm auch, seine antifaschistische Gesinnung durchblicken zu lassen, was zumindest bei den Aufgeweckteren von uns ankam. Ich war sein Lieblingsschüler undschnappte natürlich auch den verborgensten Sinn seiner Äußerungen auf. Ich war von diesem Lehrer fasziniert, und so war es nicht schwierig für ihn, mir seine antifaschistischen Überzeugungen zu vermitteln.
    Ich habe immer eine tiefe Dankbarkeit gegenüber diesem frühen Lehrer empfunden, der mir mit Leidenschaft die Liebe zum Lernen einzupflanzen verstand. Er hieß Luca Urzì, und ich sehe seine Unterschrift auf den Zeugnissen der Schuljahre 1939–40 und 1940–41, die ich noch bewahre. Wenn es für meinen Vater relativ einfach war, die Uniform zu vermeiden, so freilich nicht für meinen Lehrer. Er stand im öffentlichen Dienst und hätte seine Entlassung riskiert, wenn er nicht in die faschistische Partei eingetreten wäre. Es hat sich mir tief eingeprägt, mit welcher Qual er bei gewissen unausweichlichen Anlässen in faschistischer Uniform vor seinen Schülern stand. Ich sehe ihn vor mir, wie er schwarz wie eine Fledermaus in die Klasse kam, ein schwarzes Hemd unter der ebenfalls schwarzen Jacke, mit schwarzen gebauschten Hosen, die in gewichsten schwarzen Stiefeln steckten, um die Taille den über dem Nabel geschlossenen Ledergürtel. Auf dem Kopf trug er ein mit Fransen verziertes Barett, ähnlich dem eckigen, das der Duce sich auf den kahlen, glattrasierten Schädel zu stülpen pflegte. Der Lehrer stand schon in einem gewissen Alter, hatte einen ausgeprägten Sinn für die eigene Würde und empfand Scham, wenn er in dieser Aufmachung vor seine Schüler treten musste. Doch blieb ihm keine andere Wahl. Auf meinem ziemlich langen Schulweg kam ich an einem der größten architektonischen Meisterwerke der Stadt vorbei, dem barocken Benediktinerkloster des 18. Jahrhunderts mit der riesigen Kirche San Niccolò an der Seite, deren Fassademit den vier enormen, abgebrochenen Säulen unvollendet blieb. Obwohl ich jeden Tag an ihr vorbeilief, betrat ich die Kirche jedoch nie und wusste deshalb auch nicht, dass sie die mächtige von Donato Del Piano geschaffene Orgel aus dem 18. Jahrhundert barg. Goethe hatte das Gotteshaus dagegen besucht und auch die Orgel gehört, die ein Benediktiner auf seine Bitte hin bereitwillig für ihn spielte. Doch natürlich wusste ich in diesem Alter auch von Goethe nichts, und keinerlei Neugier brachte mich dazu, in die Kirche hineinzuschauen, die einzige bedeutende, die Goethe in Catania besichtigte.
    Die Stadt, in der ich geboren wurde und aufgewachsen bin, hatte gar keine Ähnlichkeit mit der, die Goethe beschreibt, der sie aufgrund seiner frischen Lektüre der
Odyssee
mit einer mythischen Aura umgab. Er sah, wie er in der
Italienischen Reise
erzählt, kurz vor der Ankunft in der Stadt in einem Landgasthof die Wandkritzeleien eines englischen Reisenden, der davor warnte, in Catania in einer gewissen «Locanda del Leon d’Oro» Logis zu nehmen, denn dort würde man in die Klauen von Sirenen, Zyklopen und Skyllen

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