Eine italienische Kindheit
Menge vom berühmten Balkon des römischen Palazzo Venezia aus hielt. Der Duce benutzte diesen Balkon wie eine Theaterbühne, auf der er die Rolle des großen Staatsmanns spielte. Da tanzte er hin und her, die Kinnlade vorgeschoben und die Hände auf die Hüften gestützt, mit kreisenden Armen und gespreizten Beinen. Der große deutsche Philologe Victor Klemperer, ein perfekter Kenner der italienischen Sprache, hatte 1932 Gelegenheit, im italienischen Konsulat in Dresden einen Film mit dem Titel
Zehn Jahre Faschismus
zu sehen, in dem ihn die Mimik des großen Demagogen zutiefst beeindruckte. Er beschrieb sie anschaulich in seinem 1947 erschienenen Buch
LTI. Notizbuch eines Philologen
. Wie immer war Mussolinis Rede mit hochtönenden Phrasen und Parolen gespickt, darunter auch dem Spruch, der den Italienern aus allen Radiokanälen entgegenschallte: «Wenn ich vorrücke, folgt mir, wenn ich zurückweiche,tötet mich, wenn man mich tötet, rächt mich!» Es handelt sich, wie nachgewiesen wurde, um ein Zitat aus der fünfundreißigbändigen
Storia universale
von Cesare Cantù, einem lombardischen Historiker des 19. Jahrhunderts von sehr bescheidenem intellektuellem Niveau und von ultraklerikaler Tendenz, der sein Werk für ein Publikum von Halbgebildeten schrieb. Dieses vielbändige Geschichtswerk war, ich weiß nicht, wie, auch in unsere Wohnung gelangt, in der es nur sehr wenige Bücher gab und die
Storia universale
eine ganze Wand schmückte. Als Junge blätterte ich manchmal darin herum, fand sie aber schrecklich langweilig und hörte bald wieder damit auf. Der besagte Spruch findet sich in einem Band über die Französische Revolution und wird dort einem Anführer der katholisch-monarchistisch gesinnten Aufständischen der Vendée, die gegen die republikanischen Truppen kämpften, in den Mund gelegt. Die Quelle ist bezeichnend für die erbärmliche Halbbildung des Duce, der es nötig hatte, seine donnernden Sprüche aus dergleichen Werken zu beziehen. Es darf nicht vergessen werden, dass er keine große Schulbildung genossen hatte, er brachte es nur zum Diplom eines Lehrers für die ersten fünf Grundschuljahre. Bei den unzähligen Gelegenheiten, die er den martialischen Spruch vom Balkon des Palazzo Venezia, seiner Lieblingstribüne, dem Publikum entgegenbrüllte, kam ihm sicher nie der Gedanke, dass die Antifaschisten ihn, zumindest was den zweiten Befehl betraf, eines Tages ernst nehmen würden. Dies geschah am Ende des Kriegs, als Mussolinis deutsche Verbündete besiegt Italien fluchtartig verließen. Der Duce versuchte im April 1945, als deutscher Soldat verkleidet, auf einem Lastwagen der Wehrmacht in die Schweiz zu fliehen, im Gepäck die Goldreserven der italienischenNationalbank. Doch am 27. April wurde er in Dongo am Comer See von einer Gruppe kommunistischer Partisanen entdeckt und am Tag darauf zusammen mit seiner Geliebten Clara Petacci und einigen faschistischen Parteibonzen auf Befehl des Nationalen Befreiungskomitees erschossen. Die Leichen wurden nach Mailand geschafft und mit dem Kopf nach unten auf der Piazza Loreto aufgehängt.
Mussolini auf dem Balkon des Palazzo Venezia
Tief erschreckt von der Ankündigung des Kriegs im Radio, begann meine Mutter zu weinen. Ich ging damals noch auf die Grundschule und ahnte nicht, wie unheilvoll dieses Ereignis war. Das Wort Krieg erinnerte mich nur an eine Episode meiner frühen Kindheit, als ich unseren Hauswart in kakifarbener Uniform und mit einem großen Kolonialhelm auf dem Kopf bei seinem Aufbruch nach Afrika gesehen hatte. Man erzählte mir, dass er sich wegen des guten Solds als Freiwilliger für den Krieg gegen Äthiopien gemeldet habe. Italien besaß seit Ende des 19. Jahrhunderts zwei Kolonien in Afrika, Eritrea und Somalia, und von hier aus setzten sich im Oktober 1935 die italienischen Truppen in Marsch, um im März und April 1936 die wenigen und dazu schlecht ausgerüsteten äthiopischen Truppen zu besiegen und das Land zu erobern. Unser Hauswart kehrte im Laufe des Jahres 1936, wann genau, weiß ich nicht, nach Catania zurück. Aus den Schulbüchern lernte ich später, dass das Kaiserreich proklamiert worden war und der italienische König nun auch den Titel eines Kaisers von Äthiopien führte. Es ist kaum verwunderlich, dass Eritrea, Somalia und Äthiopien schon kurz nach Ausbruch des Kriegs in wenigen Monaten zwischen August 1940 und Mai 1941 von den britischen Truppen besetzt wurden.
Unser Hauswart lebte allein in einem winzigen Gemach im
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