Eine kurze Geschichte der Zeit (German Edition)
beispielsweise ein zweidimensionaler gekrümmter Raum. Eine Geodäte auf der Erde wird Großkreis genannt und ist die kürzeste Strecke zwischen zwei Punkten (Abb. 8). Da die Geodäte die kürzeste Verbindung zwischen zwei beliebigen Flugplätzen ist, wird jeder Navigator dem Piloten diese Route angeben. Nach der Allgemeinen Relativitätstheorie folgen Körper in der vierdimensionalen Raumzeit immer geraden Linien, doch für uns scheinen sie sich in unserem dreidimensionalen Raum auf gekrümmten Bahnen zu bewegen. (Stellen Sie sich vor, Sie beobachten ein Flugzeug, das über hügeliges Gebiet fliegt. Obwohl es im dreidimensionalen Raum einer geraden Linie folgt, beschreibt sein Schatten auf der zweidimensionalen Erdoberfläche eine gekrümmte Bahn.)
Abb. 7: Körper mit eigener Masse bewegen sich langsamer als das Licht. Somit liegen ihre Bahnen im Zukunftslichtkegel.
Abb. 8: Auf der Erde ist eine Geodäte die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, die auf einem sogenannten Großkreis liegen.
Die Masse der Sonne krümmt die Raumzeit dergestalt, daß sich die Erde, obwohl sie in der vierdimensionalen Raumzeit einem geraden Weg folgt, im dreidimensionalen Raum auf einer kreisförmigen Umlaufbahn zu bewegen scheint. Tatsächlich sind die von der Allgemeinen Relativitätstheorie vorhergesagten Umlaufbahnen der Planeten fast identisch mit denen, die sich aus Newtons Gravitationstheorie ergaben. Im Fall des Merkur jedoch, der – von allen Planeten der Sonne am nächsten – der stärksten Gravitationswirkung unterworfen ist und eine längliche Umlaufbahn hat, müßte sich der Allgemeinen Relativitätstheorie zufolge die lange Achse der Ellipse mit einer Geschwindigkeit von ungefähr einem Grad pro zehntausend Jahren um die Sonne drehen. So geringfügig dieser Effekt ist, war er den Astronomen doch schon vor 1915 aufgefallen. Er wurde zu einer der ersten Bestätigungen der Theorie. Später sind mit Hilfe von Radar die noch geringfügigeren Abweichungen der anderen Planeten von Newtons Vorhersagen gemessen worden, und sie deckten sich alle mit den Berechnungen auf der Grundlage der Allgemeinen Relativitätstheorie.
Auch Lichtstrahlen müssen in der Raumzeit geodätischen Linien folgen. Wiederum bewirkt die Krümmung der Raumzeit, daß sich das Licht nicht mehr geradlinig durch den Raum zu bewegen scheint. Deshalb sagt die Allgemeine Relativitätstheorie voraus, das Licht werde durch Gravitationsfelder abgelenkt. Somit müßte etwa die Sonne kraft ihrer Masse Lichtkegel von Punkten in ihrer Nähe leicht nach innen biegen. Das Licht eines fernen Sterns, das auf seiner Reise durchs Universum in die Nähe der Sonne geriete, würde also geringfügig abgelenkt werden, so daß der Stern für einen Beobachter auf der Erde in einer anderen Position zu stehen schiene (Abb. 9). Käme das Licht des Sterns stets nahe an der Sonne vorbei, könnten wir nicht entscheiden, ob es abgelenkt wird oder ob der Stern tatsächlich dort ist, wo wir ihn sehen. Da die Erde jedoch um die Sonne kreist, verschwinden einige Sterne scheinbar hinter der Sonne. Dabei wird ihr Licht abgelenkt – ihre Position im Verhältnis zu anderen Sternen scheint sich zu verändern.
Abb. 9: Die Masse der Sonne verwirft die Raumzeit in ihrer Nähe. Dadurch wird das Licht eines fernen Sterns, das dicht an der Sonne vorbeikommt, abgelenkt. Auf der Erde entsteht der Eindruck, es treffe aus einer anderen Richtung ein.
Normalerweise ist es sehr schwer, diesen Effekt zu beobachten, weil das Licht der Sonne die Sterne, die in ihrer Nähe am Himmel erscheinen, nicht erkennen läßt. Anders verhält es sich bei einer Sonnenfinsternis, wenn der Mond das Sonnenlicht abfängt. Einsteins Voraussagen zur Lichtablenkung konnten im Jahre 1915 noch nicht überprüft werden. Der Erste Weltkrieg eskalierte, und man war mit anderen Problemen beschäftigt. Erst 1919 stellte eine britische Expedition bei einer Sonnenfinsternis in Westafrika fest, daß das Licht tatsächlich von der Sonne abgelenkt wird, wie es die Theorie vorhersagt. Dieser Beweis für die Theorie eines Deutschen durch englische Wissenschaftler wurde pompös als ein Akt der Versöhnung der einstigen Kriegsgegner gefeiert. Insofern lag eine besondere Ironie darin, daß man bei einer späteren Überprüfung der Fotos, die auf dieser Expedition gemacht worden waren, auf Fehler stieß, die genauso groß waren wie der Effekt, den man hatte messen wollen: Das Ergebnis war purer Zufall gewesen oder einer
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