Eine kurze Geschichte von fast allem
auch schrecklich empfindlich. Es ist ein wahrhaft seltsamer Aspekt unseres Daseins: Wir stammen von einem Planeten, der Leben sehr gut hervorbringen und noch besser auslöschen kann.
Eine biologische Art bleibt auf der Erde im Durchschnitt nur vier Millionen Jahre erhalten. Wer also Jahrmilliarden überstehen will, muss so launenhaft sein wie die Atome, aus denen wir bestehen. Man muss bereit sein, sich in allem zu verändern – in Form, Farbe, Spezies-Zugehörigkeit, einfach in allem –, und das immer und immer wieder. Das ist leichter gesagt als getan, denn die Veränderung ist ein Zufallsprozess. Um vom »protoplasmatischen urtümlichen Atomkügelchen« (wie es in einem Lied von Gilbert und Sullivan heißt) zu einem fühlenden, aufrecht gehenden Jetzt-Menschen zu werden, mussten Sie durch Mutationen immer wieder neue Eigenschaften erwerben, und das auf zeitlich genau abgestimmte Weise über ausgesprochen lange Zeit hinweg. Während verschiedener Phasen innerhalb der letzten 3,8 Milliarden Jahre haben Sie den Sauerstoff zunächst verabscheut und dann geliebt, Flossen und Gliedmaßen und flotte Flügel getragen, Eier gelegt, die Luft mit einer gespaltenen Zunge gefächelt, glatte Haut und einen Pelz besessen, unter der Erde und auf Bäumen gelebt, sich zwischen der Größe eines Hirsches und einer Maus bewegt, und Millionen Dinge mehr. Die winzigste Abweichung bei einer dieser entwicklungsgeschichtlichen Wandlungen, und Sie würden jetzt vielleicht Algen von Höhlenwänden lecken, sich wie ein Walross an einer Felsküste rekeln oder durch ein Blasloch oben auf dem Kopf die Luft ausstoßen, bevor Sie wegen eines Mauls voller leckerer Sandwürmer 20 Meter in die Tiefe tauchen.
Sie hatten nicht nur das Glück, dass Sie seit undenklichen Zeiten Teil einer bevorzugten Evolutions-Abstammungslinie geblieben sind, sondern das Schicksal war Ihnen auch in Ihrer persönlichen Abstammung auf äußerste – um nicht zu sagen wundersame - Weise hold. Überlegen wir nur: 3,8 Milliarden Jahre lang – eine Zeit, die länger ist als das Alter der Gebirge und Flüsse und Ozeane – waren alle Ihre Vorfahren mütterlicher- und väterlicherseits so attraktiv, dass sie einen Partner gefunden haben, aber auch so gesund, dass sie sich fortpflanzen konnten, und von Schicksal und Umständen so begünstigt, dass sie lange genug lebten und das alles tun konnten. Kein einziger unserer unmittelbaren Vorfahren wurde erschlagen, gefressen, ertränkt, ausgehungert, ausgesetzt, festgehalten, zur Unzeit verwundet oder auf andere Weise daran gehindert, die Aufgabe seines Lebens zu erfüllen und ein winziges Päckchen genetisches Material im richtigen Augenblick an den richtigen Partner abzugeben, um so die einzig mögliche Abfolge von Erbkombinationen weiterzureichen, die – am Ende, erstaunlicherweise und für allzu kurze Zeit – Sie hervorbringen.
Dieses Buch handelt davon, wie sich das alles abgespielt hat – insbesondere von der Frage, wie der Weg vom Garnichts zum Etwas verlaufen ist, wie ein klein wenig von diesem Etwas zu uns geworden ist, und auch ein wenig von den Vorgängen dazwischen und seitdem. Das sind natürlich eine Menge Themen, und deshalb heißt das Buch Eine kurze Geschichte von fast allem, auch wenn das eigentlich nicht ganz stimmt. Es kann nicht stimmen. Aber wenn wir Glück haben, wird es uns am Ende so vorkommen, als ob es stimmt.
Mein eigener – vielleicht unmaßgeblicher – Ausgangspunkt war ein illustriertes Buch über Naturwissenschaft, das uns in der vierten oder fünften Klasse als Unterrichtsmaterial diente. Es war ein ganz normales Schulbuch im Stil der fünfziger Jahre – zerfleddert, ungeliebt, schrecklich dick –, aber fast ganz am Anfang enthielt es eine Abbildung, die mich fesselte: ein Schnittbild des Erdinneren; es sah aus, als hätte jemand mit einem großen Messer in den Planeten geschnitten und dann vorsichtig einen Keil herausgezogen, der ungefähr ein Viertel der Gesamtmasse ausmachte.
Man kann sich kaum vorstellen, dass es eine Zeit gab, in der ich noch nie ein solches Bild gesehen hatte, aber offensichtlich war es so: Ich weiß noch ganz genau, wie verblüfft ich war. Ehrlich gesagt, gründete sich mein Interesse wahrscheinlich anfangs auf ein ganz persönliches Bild: ein Strom argloser Autofahrer aus den Staaten des amerikanischen Mittelwestens, die nach Osten fahren und plötzlich, zwischen Mittelamerika und dem Nordpol, über eine 6000 Kilometer hohe Klippe stürzen. Aber es dauerte nicht
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