Eine Marcelli geht aufs Ganze
Zimmer.
Er war ein grausamer Mann. Sie sollte ihn wegen Kindesmisshandlung bei der Polizei melden. Dann würden sie ihn einsperren, und er müsste den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen. Das hatte er verdient.
Kelly warf sich aufs Bett und zog Pu den Bären zu sich heran.
»Francesca ist gar nicht mal so schlimm«, flüsterte sie ihm in sein Stoffohr. »Aber er ist der Schlimmste.«
Sie hasste ihn und würde ihm niemals vergeben. Egal, was kommen mochte.
Auf halbem Weg zur Hacienda war Francesca am nächsten Tag immer noch keine einleuchtende Erklärung für Kellys Anwesenheit eingefallen. Dabei konnte sie wohl kaum darauf hoffen, dass die Grands das Mädchen nicht bemerken würden.
Sie warf Kelly einen Blick zu. Nach dem morgendlichen Training hatte sie sich eine Shorts und ein T-Shirt angezogen. Die ganze Fahrt über starrte sie schon aus dem Fenster, ohne viel zu reden. Francesca überlegte, wie sie am besten zugeben könnte, dass sie ein Problem hatte. Ein großes Problem.
Sie räusperte sich. »Hatte ich schon erwähnt, dass meine Familie väterlicherseits aus Italien stammt?«, fragte sie.
Kelly drehte den Kopf und schaute sie an. Nicht der Hauch von Interesse lag in ihrem Blick. »Nein.«
»Tut sie aber. Die Familie meiner Mutter kommt aus Irland. Also beides die klassischen europäischen Auswanderländer.«
Kelly schaute sie weiterhin unverwandt an, ohne etwas zu sagen.
»Ihre Vorstellung von Perfektion ist es, alle ihre vier Töchter glücklich verheiratet und mit fünf oder sechs Kindern zu sehen, was bis zum heutigen Tag noch nicht eingetreten ist. Aber der Druck, der auf uns lastet, ist extrem hoch.«
Sie wartete ab, ob Kelly etwas sagen würde. Doch Sams Tochter blinzelte nicht einmal.
»Ich werde ihnen sagen, dass dein Dad und ich Freunde sind«, fuhr sie fort. »Die Sache ist die – sie werden mir nicht glauben. Also wappne dich schon mal gegen Unmengen nicht wirklich subtiler Hinweise auf Hochzeiten, Ehe, Verlobungen, ganz zu schweigen von Fragen dazu, wie viele Geschwister du dir wünschst. Okay?«
»Okay.« Kelly zuckte mit den Schultern und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Landschaft, die an ihrem Fenster vorbeiflog. »Ich verstehe schon. Eltern können total überreagieren.«
Francesca hatte das Gefühl, diese Bemerkung war ein Seitenhieb auf Sam, aber sie ignorierte ihn. »Das andere, wovor ich dich warnen muss, ist, dass meine Großmütter jeden lieben. Sie werden einen Riesenwirbel um dich veranstalten, was du, wie ich weiß, total uncool finden wirst. Aber da musst du leider durch.«
Plötzlich wirkte Kelly etwas verunsichert. »Was meinst du mit Riesenwirbel?«
»Oh, sie werden dich umarmen und dir sagen, wie hübsch du bist, und versuchen, dich dazu zu bringen, ganz viele Kekse und so zu essen. Na ja, der ganze langweilige Kram, den Großmütter nun mal so machen.« Sie lächelte.
Die Unsicherheit schwand. »Damit komm ich schon klar.«
»Da bin ich mir sicher. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass es anstrengend werden kann.«
Francesca wollte Kelly nicht in die Enge treiben. Aber sie wusste, würde sie von ihrer Familie schwärmen, würde Kelly aus Trotz die gegenteilige Position beziehen und sie von der ersten Minute an hassen.
Deshalb hatte sie sich entschieden, das Treffen als nicht sonderlich angenehm zu beschreiben. Kellys Neigung, relativ stur zu sein, bedeutete in dem Fall, dass sie alles tun würde, um die Grands zu mögen. Francesca glaubte fest daran, dass ein Nachmittag auf der Hacienda Kellys übertriebenes Ego ein wenig stutzen würde.
Vor ihnen erhob sich die Tordurchfahrt zum Gut der Marceliis. Als sie darunter hindurchfuhren und der langen, asphaltierten Auffahrt folgten, drehte Kelly sich zu ihr herum und sah sie mit großen Augen an.
»Du bist Marcelli Wines?«
»So in der Art. Das Weingut gehört meinem Großvater, nicht mir, aber ich bin hier aufgewachsen.«
»Und hast Wein getrunken?«
Francesca lachte. »Manchmal.«
»Wow!«
Kelly setzte sich wieder gerade hin, schaute erst nach links, dann nach rechts. Weinreben erstreckten sich, so weit das Auge blicken konnte. Es war das erste Mal seit ihrer Ankunft, dass sie so etwas wie Begeisterung gezeigt hatte. Francesca war ganz aufgeregt.
»Wird das hier alles bald neuer Wein?«, fragte Kelly.
»Ich denke schon.« Francesca schaute aus dem Seitenfenster. »Ich bin allerdings keine Expertin. Wenn du spezielle Fragen hast, solltest du mit meiner Schwester Brenna sprechen.
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