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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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einen
langen Zeitraum vollzogen, aber das stimmt nicht. Bis zum 26. September waren
es nur ungefähr drei Wochen.
    An dem Tag trafen wir uns abends um sieben zu
fünft in St. Frideswide’s — Brenda Josephs und Paul Morris und Lionel Lawson
und Philip Lawson und ich. Die Kirche wurde abgeschlossen, und ich bekam meine
Anweisungen. In der Marienkapelle sollten die Kerzen angezündet und Gebetbücher
für dreizehn Besucher ausgelegt werden, auch auf den Platz des Kirchenältesten.
Ich glaube, das war eigentlich das Schlimmste. Paul spielte etwas auf der
Orgel; ich fand, daß er von uns allen am beklommensten wirkte. Brenda — in
einem schicken grünen Kostüm — stand am Taufstein, ihr Gesicht war ganz
ausdruckslos. Lionel tat, als bereite er wie üblich die Messe vor; soweit ich
es erkennen konnte, wirkte er ganz wie sonst. Lionels Bruder war ebenso
gepflegt wie bei unserer letzten Begegnung. Er saß in der Sakristei und trank
aus einer Flasche, die ihm wohl Lionel besorgt hatte. Gegen Viertel nach sieben
bat Lionel Brenda und mich, uns vor den Altar in der Marienkapelle zu stellen
und dort zu bleiben, bis er uns Bescheid gab. Dann hörten wir, wie an der Tür
des Nordportals geschlossen wurde, und Harry Josephs betrat mit einem großen,
in braunes Packpapier gewickelten Paket die Kirche. Sein Gesicht war gerötet,
und er wirkte erregt. Offenbar hatte er schon ziemlich viel getrunken. Er sah
uns und nickte, aber ob er mir oder Brenda zunickte, könnte ich nicht sagen.
Dann verstummte die Orgel plötzlich, Paul kam zu uns, legte Brenda leicht die
Hand auf die Schulter und ging zur Sakristei. Minutenlang hörten wir das
Stimmengemurmel der Männer, dann ein Scharren und ein leises Stöhnen. Als
Lionel uns holte, war er im Meßgewand. Er atmete schwer und sah verstört aus.
Wenn die Polizei käme, sagte er, solle ich aussagen, es seien etwa ein Dutzend
Besucher beim Gottesdienst gewesen, hauptsächlich amerikanische Touristen, und
ich hätte Harry in der Sakristei um Hilfe rufen hören, während der letzte
Choral gespielt wurde. Ob Brenda da noch neben mir stand, weiß ich nicht mehr.
Benommen ging ich zur Sakristei. Ich sah ihn deutlich. Er lag ganz still da in
seinem braunen Anzug und der Soutane, die er immer in der Kirche trug, und in
seinem Rücken steckte Lionel Lawsons Papiermesser.
    Von den anderen Toten weiß ich nichts. Aber ich
bin überzeugt davon, daß Lionel Selbstmord begangen hat, weil er über seine Tat
nicht hinweggekommen ist. Ich bin sehr froh, daß man ihm zumindest nicht den
Mord an Brenda Josephs und Paul und Peter Morris anlasten kann. Wenn ich jetzt
diesen langen Bericht schließe, denke ich an meine Mutter und bitte Sie, für
sie zu sorgen, solange ich es nicht kann, und ihr zu sagen — nein, ich weiß
nicht, was Sie ihr sagen könnten. Es wird wohl die Wahrheit sein müssen.
    Gezeichnet Ruth Rawlinson.
     
     
    Morse legte die Aussage aus der Hand und sah
Lewis ziemlich ungnädig an. Er war über sechs Stunden nicht im Büro gewesen und
hatte keine Adresse hinterlassen, an der man ihn hätte erreichen können. Es war
jetzt acht Uhr abends, und er sah müde aus.
    «Ich weiß ja nicht, wer das geschrieben hat,
aber von Absätzen hält die Dame wohl nicht viel», stellte er fest.
    «Dafür kann sie 130 Worte in der Minute
aufnehmen. Sie ist wirklich gut, ich wünschte, wir hätten sie bei uns in
Kidlington.»
    «Hat Miss Rawlinson so schnell gesprochen?»
    «Ziemlich schnell, ja.»
    «Merkwürdig», sagte Morse.
    Lewis sah seinen Chef etwas verdutzt an. «Damit
dürfte einiges klar sein, nicht?»
    «Sie meinen das hier?» Morse griff nach der
Aussage, trennte die letzten Seiten ab, zerriß sie und warf sie in den
Papierkorb.
    «Aber Sie können doch nicht einfach —»
    «Was soll’s? Was auf diesen Seiten an Fakten
steht, ist nicht mal ein Blatt Klopapier wert. Wenn sie bei diesem Meineid
bleibt, kriegt sie doppelt so lange, ist Ihnen das nicht klar?»
    Lewis war überhaupt nichts mehr klar. Er war sehr
zufrieden mit seinem Tagewerk gewesen und war es noch. Aber auch er war jetzt
sehr müde und schüttelte nur gelassen den Kopf.
    «Ich könnte ein bißchen Ruhe gebrauchen, Sir.»
    «Ruhe? Ich höre wohl nicht richtig. Sie retten
mir das Leben, und jetzt denken Sie nur daran, sich aufs Ohr zu legen? Wir
gehen feiern, mein Freund.»
    «Aber —»
    «Wollen Sie nicht hören, was ich erlebt habe?»
Er sah Lewis listig an, und dann lächelte er. Der Triumph, der in diesem
Lächeln stand, wurde

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