Eine Messe für all die Toten
ich, daß das, was gemunkelt wurde, tatsächlich stimmte. Harry Josephs
sagte es mir. Bei seinem ersten Besuch waren wir zu dritt — Mutter war zufällig
an diesem Tag auf-, er war sehr höflich und aufmerksam und blieb etwa zwei
Stunden. Danach kam er ziemlich regelmäßig, immer vormittags, und wenn Mutter
im Bett lag, saßen wir zusammen im Wohnzimmer. Er erinnerte mich ein bißchen an
meinen früheren Chef, denn er trat mir nie zu nahe. Damals jedenfalls nicht.
Aber er machte kein Hehl daraus, daß er sich einsam und unzufrieden fühlte, und
schließlich erzählte er mir, daß er von der Beziehung seiner Frau zu Paul
Morris wußte. Zuerst kam er wohl nur, um sich ein bißchen bemitleiden zu
lassen, denn er fragte mich nie, was er denn nun tun solle. Aber eines Tages,
als wir zur Haustür gingen, blieb er plötzlich stehen und sagte, ich gefiele
ihm und er würde gern mit mir schlafen. Ich war natürlich ein bißchen geschmeichelt.
Moralische Bedenken kamen mir nicht. Wir hatten Sherry getrunken, und ich
fühlte mich leichtlebiger und kühner als sonst. Was sollte ich antworten? Ich
war noch Jungfrau. Ich war einundvierzig. Dem einzigen Mann, in den ich bisher
verliebt gewesen war, hatte ich einen Korb gegeben. Die Jahre vergingen, und
wenn ich nicht bald meine Erfahrungen mit Sex machte, würde es zu spät sein.
Harry verriet ich davon natürlich nichts. Normalerweise hätte ich wohl gesagt,
er sei schließlich verheiratet, und ich hätte zu viel Achtung vor seiner Frau,
um an eine Beziehung zwischen uns auch nur zu denken. Aber so, wie die Dinge
lagen, lächelte ich nur und meinte, er solle nicht so albern sein. Er sah so
unglücklich, so gedemütigt aus, daß er mir plötzlich furchtbar leid tat.
Nebenan war die neue, cambridgeblau gestrichene Tür zu 14 B. Ich hatte den
Schlüssel in der Tasche und fragte, ob er sich die Wohnung mal ansehen wolle.
Er liebte mich auf der Matratze des unbezogenen Betts im Hinterzimmer. Für mich
war es keine besonders glückliche Initiation, aber ich bereute eigentlich
nichts, empfand eher so etwas wie Befriedigung. In den nächsten Monaten
schliefen wir einmal in der Woche miteinander. Mit zunehmender Vertrautheit mit
der physischen Seite fand ich mehr und mehr Spaß am Sex. Aber ich spürte, daß
irgend etwas nicht stimmte, denn wenn es vorbei war, kam ich mir schäbig und
minderwertig vor und haßte mich, weil ich das Verlangen nach Sex hatte. Ich
versuchte Schluß zu machen, aber im Rückblick glaube ich, daß es ein
halbherziger Versuch war. Ich kam von Harry nicht los, wurde immer nervöser und
hatte Angst, meine Mutter könne etwas merken. Auch wegen der Nachbarn machte
ich mir Sorgen, was völlig überflüssig war, denn in den Häusern rechts und
links von uns wohnten unzählige, ständig wechselnde Mieter, hauptsächlich
Studenten. Aber vor allem machte ich mir meinetwegen Gedanken. Ich brauchte
Harry inzwischen mehr als er mich, und das wußte er. Obgleich ich mich ständig
mit Selbstvorwürfen quälte, wenn er fort war, dachte ich schon bald wieder an
unser nächstes Treffen. Ich begann ihn wie mich zu hassen. Er war wie eine
süchtig machende Droge.
Das alles könnte für Sie wichtig sein, um zu
verstehen, wie es danach mit mir weiterging.
40
Aussage von Ruth Rawlinson (Fortsetzung)
An einem Mittwoch vormittag Anfang September
hatte meine Mutter einen schlimmen Anfall, und ich beschloß, erst abends in die
Kirche zum Putzen zu gehen. Ich hatte einen Schlüssel, es spielte also keine
Rolle, wenn ich einmal von meinem Zeitplan abwich. Ich schloß die Tür hinter
mir zu (ich benützte fast immer die Tür am Südportal, weil ich dort mein
Fahrrad abstellen konnte) und war gerade beim Beichtstuhl, als ich hörte, wie
die Tür am Nordportal aufgeschlossen wurde. Paul Morris und Lionel Lawsons
Bruder Philip kamen herein. Mir wurde ein bißchen umheimlich, und ich blieb, wo
ich war. Von dem Gespräch verstand ich kaum mehr als einzelne Worte, aber
soviel war mir klar, daß Paul erpreßt wurde und nicht bereit war, sich das noch
länger bieten zu lassen. Wenige Minuten später schien es mir, daß Paul gegangen
war und daß Lionel die Kirche betreten hatte, denn jetzt hörte ich die beiden
Brüder miteinander reden. Wieder bekam ich nicht viel von dem mit, was sie
sagten, aber das wenige, was ich aufschnappte, traf mich wie ein Blitz aus
heiterem Himmel. Sie sprachen davon, Harry Josephs umzubringen. Ich war so
geschockt, daß mir die Scheuerbürste aus
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