Eine Messe für all die Toten
nur durch eine Spur von Trauer geschmälert.
Das Buch der Offenbarung
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Der Friar Bacon Pub liegt ein bißchen
abseits der A40. Sein Name erinnert an den großen Wissenschaftler und
Philosophen des 13. Jahrhunderts, und sein Bier war dem kritischen Gaumen von
Chief Inspector Morse genehm. Das Gasthausschild zeigt einen beliebten,
gemütlich aussehenden Mann in Franziskanerhabit, der etwas in ein Glas schenkt,
was zunächst wie Guinness aussieht, sich aber auf den zweiten Blick als eine
chemische Flüssigkeit entpuppt, die aus einer Phiole in eine andere gegossen
wird. So jedenfalls erklärte es Morse. Sie bestellten ihr Bier und setzten
sich, und Morse hub an:
«Dieser Fall hat — oder hatte — einige sehr
eigenartige Seiten, die uns viel zu schaffen gemacht haben. Zum Schluß hatten
wir fünf Leichen am Hals und haben nie erfahren, was uns der eine oder andere
dieser Toten vielleicht hätte sagen können. Im Hinblick auf das Motiv sind wir
also zunächst nur auf Mutmaßungen angewiesen, gestützt auf den einen oder
anderen Hinweis. Nehmen wir zunächst Harry Josephs. Er ist knapp bei Kasse, und
das wenige Bare, das er bekommt, trägt er umgehend zum Buchmacher. Ohne Wissen
seiner Frau nimmt er einen Kredit auf das Haus auf und hat auch den bald
verwettet. Dann, schätze ich, hat er angefangen, sich aus der Kollekte zu
bedienen. Es sind verlockend hohe und leicht zugängliche Beträge. Dabei — auch
das eine Mutmaßung — muß ihm Lionel Lawson auf die Spur gekommen sein. Wenn er
die Sache meldet, ergibt sich der Fall eines verdienten Offiziers, der in die
Kasse gegriffen hat. Einem Mann, der schon seinen Job und sein Geld verloren
hat und dem der Verlust seiner Frau droht, könnte das den Rest geben. Jetzt zu
Lionel Lawson. Über ihn sind Gerüchte in Umlauf. Häßliche Gerüchte. Es geht um
Beziehungen zu Chorknaben. Jemand muß es ihm gesteckt haben, wahrscheinlich
Paul Morris, dessen Sohn Peter im Chor war. Auch hier droht eine öffentliche Demütigung:
Ein hoch angesehener Geistlicher der Anglikanischen Kirche beim Schwuchteln
erwischt... Kommen wir zu Paul Morris. Er hat eine Affäre mit Harry Josephs
Frau, eine diskrete Affäre, wie er zunächst meint, aber auch das spionieren die
Klatschmäuler aus, und es dauert nicht lange, bis Harry Wind von der Sache
bekommt. Die nächste Mitwirkende ist Ruth Rawlinson, die Augen und Ohren
offenhält — mehr, als gut für sie ist. Aber sie hat genug eigene Probleme, und
diese Probleme ziehen sie in den Fall hinein. Schließlich ist da noch Lawsons
Bruder Philip, der, soweit ich das habe feststellen können, erst letzten Sommer
wieder in Oxford auftauchte, ein Schmarotzer wie eh und je. Er ist völlig
mittellos und erwartet Hilfe von seinem Bruder. Lionel läßt ihn im Pfarrhaus
wohnen, und es dauert nicht lange, bis die alten Spannungen wieder aufbrechen.
Hier bin ich übrigens nicht ausschließlich auf Mutmaßungen angewiesen, Lewis — aber
darauf komme ich noch. Was ergibt sich aus dieser Übersicht? Motive für einen
ganzen Batzen von Morden. Jeder der Betroffenen hat Grund, zumindest einen der
anderen zu fürchten, jeder hofft, von der ganzen Geschichte zu profitieren. Haß
und Einschüchterung führen zu einer sehr, sehr üblen Situation. Fehlt nur noch
ein Katalysator, und wir wissen, wer das war: Hochwürden Lionel. Er verfügt
über ein unschätzbares Plus — er hat nämlich Geld. Etwa vierzigtausend Pfund. Ihm
persönlich bedeutet Geld relativ wenig, es stört ihn nicht, von dem miserablen
Gehalt zu leben, das ihm die knickrigen Kirchenoberen aussetzen. Pfarrer Lawson
mag gewesen sein, wie er will — dem schnöden Mammon jedenfalls hat er nicht
angehangen. Also prüft er behutsam das Eis, und als er merkt, daß die Schicht
auf dem Teich dick genug ist, um sie alle zu tragen, rückt er mit seinen
Vorschlägen heraus. Was bietet er? Seinem Bruder Philip Geld und die
Möglichkeit, seinen liederlichen Lebenswandel noch ein paar Jahre fortzusetzen.
Josephs Geld und die Chance für einen neuen Start ohne seine Frau. Auch Morris
lockt er wohl mit Geld, vermutlich kann er aber auch dafür sorgen, daß Paul
außerdem noch seine Brenda bekommt, daß sie an einem anderen Ort, mit einem
hübschen Bankguthaben in der Hinterhand, zusammen ein neues Leben anfangen
können. Ruth Rawlinson bietet er Geld und die Möglichkeit, mit einem Schlag all
ihre häuslichen Sorgen loszuwerden. Er führt einen frei erfundenen Heiligentag
ein, und der Plan läuft ab. Die
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