Eine Mittelgewichts-Ehe
Wörterbuch.«
Auch hat man ganz gewiß keine Worte für all die Dinge, die Utsch und ich in diesen ersten paar Wochen des Novembers 1963 in Wien taten. Hat man zum Beispiel Worte für die Gesichter von Utschs Ex-Zimmergenossen in ihrem Studentenheim in der Krügerstraße? Über einer Reihe schimmernder Waschbecken rasierten wir drei uns jeden Morgen im Herrenzimmer. Willi hatte einen Spitzbart, den er umkurvte wie seine Drosselader; Heinrich hatte einen Schnurrbart, nicht dicker als die Arterie an seinem Handgelenk. Ich beobachtete ihre Rasiergeräte und pfiff. Nach der dritten Nacht, die ich mit Utsch verbrachte, rasierte sich Willi mit Tränen in den Augen seinen Spitzbart ab. Nach der vierten Nacht kastrierte Heinrich seinen Schnurrbart. Dann leerte Willi eine Dose Rasiercreme in sein gekräuseltes, blondes Haar und grinste mir tückisch über die Schulter, während mein eigener Rasierer zittrig über meine Kehle schabte. Nach der ersten Woche mit Utsch fragte ich: »Diese Kerle hinten im Gang, die, die ich jeden Morgen im Herrenzimmer treffe - kennst du die?«
»Ja.«
»Ah, wie haben die mit dir gestanden?« fragte ich.
Und Utsch schwatzte und schwatzte über ihren Vormund, Hauptmann Kudaschwili, über Frau Drexa Neffs Bügelzimmer und über ihre Teilnahme an der Gedenkfeier für Stalin. Und jeden Morgen, während ich mich rasierte, entfernten Willi und Heinrich mehr Haar. Es war in meiner zweiten Woche im Studentenheim, als Willi den flaumigen Streifen auf seinem Bauch abrasierte und mit kräftigen Zügen durch das blonde Büschel fuhr, das seinen Nabel verbarg.
»Ihre Demonstrationen werden schlimmer«, sagte ich Utsch. »Ich glaube nicht, daß die mich mögen.«
Also erzählte mir Utsch von der Benno-Blum-Bande - besonders von dem Mann mit dem Loch in der Wange, ihrem letzten Leibwächter. Am nächsten Morgen dräute Heinrich im Spiegel über meiner Schulter, rasierte eine rasche Schneise durch den dunklen Wald auf seiner Brust und schlitzte dabei eine verborgene Brustwarze. Sein Blut färbte den Rasierschaum rosa; er tupfte ihn sich auf die Augenbrauen und schnitt mir Grimassen.
»Ich glaube, ich lasse mir einen Bart wachsen«, sagte ich zu Utsch. »Magst du Bärte?«
Wir gingen in die Oper und in den Tiergarten; wie die Opernfans, so blieben auch die Tiere unter sich. Sie zeigte mir die kleinen Gassen, den berühmten Prater, die Parks mit ihren Stadtteil-Orchestern, die Gärten, Kudaschwilis altes Etagenhaus, die sowjetische Botschaft. Aber es war November; zu Hause war es schöner. Ihr Zimmer im Studentenheim war beinahe anti-mädchenhaft; sie war schließlich fünfundzwanzig und hatte keine Erinnerungsstücke von ihrer Mutter geerbt. Sie war bei einem Offizier der sowjetischen Armee und, in jüngerer Zeit, mit Wörterbüchern und Kunstgeschichte aufgewachsen. Sie war auch ein bißchen mit Willi und Heinrich aufgewachsen, obwohl ich das erst später erfahren sollte. Sie hatte ein schmales Einzelbett, fast so fest und kompakt wie Utsch selbst, aber sie erlaubte mir, den Kopf zwischen ihre Brüste zu legen.
»Hast du's bequem?« fragte ich sie ständig. »Geht's dir gut?«
»Natürlich!« sagte sie. »Haben es Amerikaner nie bequem?«
Morgens mußte ich mir immer noch die Zähne putzen; ich konnte das Herrenzimmer nicht gänzlich meiden. Während mein Bart wuchs, wurden Willi und Heinrich kahler, und ich sagte zu Utsch: »Es ist, als ob sie symbolisch anzudeuten versuchen, daß meine Gegenwart ihnen irgend etwas geraubt hat.«
Ich hörte mehr über den Mann mit dem Loch in der Wange, auch so ein Symbol. Utsch hatte ihn zu all ihren Leibwächtern, zu ihrer ganzen Jugend während der Besatzung verdichtet. Der Mann war Benno Blum geworden; sie träumte von ihm; sie schwor mir, daß sie ihn selbst heute noch gelegentlich halluziniere; er erschien in den Fenstern vorbeifahrender Autos oder im Mittelgang schwankender Straßenbahnen, zweifellos hinter einer vorgehaltenen Zeitung lauernd. Einmal sah sie ihn, als sie eine Führung im Kunsthistorischen machte. Er erschien in der unteren Ecke eines riesigen Tizian, als sei er aus dem Bild herausgefallen und warte, völlig in Ungnade, darauf, entdeckt zu werden.
Zwei Wochen lang behielt Utsch ihren Job, und ich mußte hinter ihren Führungen herhinken. Aber es war November; die Touristen zogen nach Süden oder nach Hause; die Führer wurden entlassen. Sie sagte, sie möge den Job, weil er unpolitisch sei. Im Winter stand sie oft in den Diensten von M.
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