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Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Schaube, pelzverbrämt, teuer; mein Haar ist geschnitten wie das eines Gelehrten; eine reichgefüllte Börse hängt auf meiner Brust, ein reich gebundenes Gebetbuch ragt aus meiner Tasche; meine Mütze ist aus weichem Leder. Ich gehe an einem Blinden vorbei, aber er ist mehr als blind; entsetzlicherweise ist er ohne Augen! Sein Gesicht ist unvollendet - grausame Absicht des Malers; wo die Augenhöhlen sein sollten, spannt sich blasses, durchscheinendes Narbengewebe über leichte Vertiefungen. Ohne ihn anzusehen, gebe ich ihm eine Münze. Ein einträchtiges Lächeln von Nonnen folgt mir. Bin ich ein großer Almosengeber? Wünschen sie etwas von mir? Mich verfolgt, oder mir folgt vielleicht einfach nur ein Junge oder Zwerg, der etwas trägt, das entweder eine Staffelei oder ein Klavierhocker zu sein scheint. Für mich? Bin ich Maler? Werde ich mich irgendwo hinsetzen, um zu spielen? Tatsächlich bin ich der einzige auf dem Gemälde, der eindeutig kein Bauer ist, der einzige, der einen Diener hat. Der Gegenstand, den mein Diener trägt, sieht aus wie einer dieser Golfsitze, aber es ist wahrscheinlich mein Kirchenstuhl. Andere - Bauern, die grobe Bauernmöbel schleppen - bringen auch ihre eigenen Stühle in die Kirche mit; nur ich habe einen Diener, der meinen trägt. Ich glaube, ich muß Anwalt oder vielleicht der Bürgermeister sein.
    Ich habe mir nie die Mühe gemacht, es herauszufinden. Es sagt mir mehr zu, über meine Identität und meine Absichten zu rätseln. Ich bewege mich von der Kirche zum Wirtshaus; das scheint klug. Einmal erfand ich eine Geschichte über meinen Tag auf dem alten niederländischen Platz. Es sollte mein zweiter historischer Roman werden, aber ich zog ihn nie durch. Ich ging nicht viel weiter, als meinen Vater um ein Darlehen anzugehen. Das war 1963. Ich hatte meine Ausbildung abgeschlossen und war ein junger, verfügbarer Dr. phil. der noch nicht gleich verfügbar sein wollte. Ich wollte nach Wien gehen, den Original-Bruegel sehen, die Rolle meiner Hauptfigur entdecken und aus der Fastnachtsmenge meine Nebenfiguren auswählen. Das auf Bruegels Gemälde basierende Buch hätte ›Karnevals Streit mit dem Fasten‹ geheißen. An einem Punkt in dem Roman sollten meine Figuren alle zusammenkommen und genau das tun, was sie auf dem Gemälde tun. Ich hatte bereits den wohlhabenden Mann mit dem Gebetbuch dazu ausersehen, ich zu sein, der Erzähler des Buches zu sein.
    »Ich weiß nicht, wie du auf solche akademischen und hochgestochenen Ideen kommst«, sagte mein Vater.
    »Ich sehe mich nächstes Jahr nach einem Dozentenjob um«, sagte ich. »Ich hätte bloß gern dieses Jahr frei, damit ich richtig mit dem Buch anfangen kann.«
    »Warum vergißt du das Buch nicht? Hat das erste nicht gereicht?« fragte er. »Ich würde lieber einen Urlaub finanzieren - etwas, was dir guttut.« Ich schwieg; ich wußte, was er von historischen Romanen hielt. »Warum findest du nicht alles über das Bild heraus, ehe du den ganzen Weg nach Wien fährst, um es zu sehen?« fragte er. »Vielleicht findest du ja heraus, daß deine Hauptfigur der städtische Steuereintreiber oder ein flämischer Stutzer ist! Zu jedem Bild, das Pieter Bruegel je gemalt hat, sind Bildbeschreibungen verfügbar. Warum bist du nicht professionell, lieber Himmel, und findest heraus, worauf du dich einläßt, ehe du damit anfängst?«
    Er verstand das nicht; er dachte, alles sei der Entwurf einer akademischen Arbeit, der entweder zu akzeptieren oder abzulehnen sei. Ich hatte ihm schon hundertmal gesagt, daß es mir auf die geschichtlichen Tatsachen hinter allem nicht so sehr ankam wie darauf, was es in mir hervorrief. Aber er war hoffnungslos, ein bis zum Ende hartnäckiger Tatsachenmensch!
    Er gab mir das Geld; am Ende tat er das immer.
    »Offensichtlich ist das alles, was ich dir zu geben habe und was du annimmst«, sagte er. »Mein Gott, Wien!« fügte er angewidert hinzu. »Warum nicht Paris oder London oder Rom? Hör auf mich und amüsier dich, ehe du anfängst, dich so ernst zu nehmen. Als nächstes wirst du noch heiraten. O Gott, ich sehe es vor mir: irgendeine Gräfin, nur dem Namen nach. Ohne einen Pfennig, aber an die feineren Sachen gewöhnt. Ihre gesamte Familie von schwärmerischen Blutern will von Wien nach New York umziehen, kann es aber nicht ertragen, die Pferde zurückzulassen.
    Hör auf mich«, sagte mein Vater von seinem Sessel aus. »Wenn du schon jemand anbuffen mußt, dann buff lieber eine Bäuerin an. Die geben gute

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