Eine Mittelgewichts-Ehe
der Geistliche. »Die wird sie zu Hause umhauen, ganz bestimmt.«
Das Formular für das amerikanische Konsulat erforderte die Unterschrift eines Trauzeugen - in unserem Fall des Kirchenpförtners, eines Griechen namens Golfo, der noch nicht gelernt hatte, seinen Nachnamen zu schreiben. Er unterschrieb das Formular mit Golfo X.
»Sie sollten ihm ein Trinkgeld geben«, sagte mir der Geistliche; ich gab Golfo zwanzig Schilling. »Er möchte Ihnen ein Geschenk geben«, sagte der Geistliche. »Golfo ist bei vielen unserer Hochzeiten Trauzeuge, und er macht immer ein Geschenk.« Golfo gab uns einen Löffel. Es war kein Silberlöffel, aber auf dem Griff war ein winziges, farbiges Bild des Stephansdoms eingraviert. Vielleicht sollten wir so tun, als wären wir dort getraut worden.
Der Geistliche begleitete uns um den Block. »Ihr solltet damit rechnen, daß ihr eure kleinen Differenzen habt«, sagte er uns. »Ihr könnt sogar damit rechnen, daß ihr manchmal ziemlich unglücklich seid«, sagte er. »Aber ich bin selber verheiratet, und es ist einfach großartig. Sie ist auch Wienerin«, flüsterte er mir zu. »Ich finde, die geben die besten Ehefrauen der Welt ab.« Ich nickte. Wir kamen plötzlich alle zum Stehen, da der Geistliche zu gehen aufhörte. »Um diese Ecke kann ich nicht gehen«, sagte er uns. »Ihr müßt allein weitergehen. Jetzt seid ihr auf euch allein gestellt!«
»Was ist um die Ecke?« fragte ich ihn. Ich nahm an, er habe metaphorisch gesprochen, aber er meinte die wirkliche Ecke Rennweg/Metternichgasse.
»Da gibt es eine Konditorei«, sagte er. »Ich halte Diät, aber der Haselnußtorte kann ich nicht widerstehen, wenn ich sie im Schaufenster sehe.«
»Ich will eine Mokkacremetorte«, beschloß Utsch; sie zerrte mich weiter.
»Es gibt zuviel Torte in dieser Stadt«, bekannte der Geistliche, »aber wissen Sie, was mir am meisten fehlt?«
»Was denn?«
»Hamburger«, sagte er. »Es ist einfach nicht dasselbe wie zu Hause.«
»Hamburger wird auf dem Gartengrill gemacht, stimmt's?« fragte Utsch.
»Also, hören Sie sich die an!« rief unser Geistlicher. »Also, da haben Sie das große Los gezogen!« sagte er mir.
Auf dem Rückweg zum Studentenheim zog Utsch plötzlich den Atem ein, grub die Fingernägel in mein Handgelenk und schrie - aber die Erscheinung, die sie zu sehen geglaubt hatte, war die Rolltreppe hinunter entschwunden, die den Opernring unterquert. Sie glaubte, sie habe den Mann mit dem Loch in der Wange gesehen. Wir Verfasser historischer Romane wissen, daß die Vergangenheit lebendig sein kann; sie kann sogar wirklich erscheinen. »Aber es ist so wirklich«, sagte mir Utsch. »Er scheint zwischen den Zeiten, wo ich ihn sehe, richtig zu altern; ich meine, er wirkt jetzt so, wie er wohl aussehen würde, wenn er zehn Jahre älter wäre als beim Abzug der Russen. Er ist grauer, er ist ein bißchen gebeugt - weißt du.«
»Und das Loch selbst?« fragte ich. »Verändert sich das je?«
»Das Loch ist ein Loch«, sagte Utsch. »Es ist ein fürchterliches Ding. Zuerst denkt man, es ist ein Schatten, aber es bewegt sich nicht. Man denkt, es ist irgendein Schmutzfleck, aber es geht nach innen - wie eine Tür, die offensteht. Und das Auge ist leicht zu dem Loch hin verzogen, und der Wangenknochen ist komisch auf dieser Seite seines Gesichts.«
»Ein Alptraum«, sagte ich.
Wir sprachen über die Häufigkeit und die Anlässe der Erscheinung. Tauchte er, so wie jetzt, zu Zeiten auf, wo sie sich von ihrer Vergangenheit losriß - wo sie sich, sagen wir, von ihrer Geschichte befreite -, als sei die Erscheinung der psychische Teil ihres Selbst, dem es widerstrebte, ihre Vergangenheit aufzugeben?
Nein, nicht unbedingt; sie glaubte nicht, daß es einem bestimmten Muster folgte. Sie zuckte die Achseln; sie gab sich keine große Mühe, solche Sachen herauszufinden. Ich gab zu verstehen, daß der Mann ein Vaterersatz sei. Schließlich war er von Kudaschwili zu ihrem Schutz abgestellt worden; da sie nicht so tun konnte, als sei Kudaschwili nicht tot, hatte sie ihn durch das lebendigste Schutzsymbol ihres Lebens ersetzt. Jahrelang hatte sie die schrittweise Verhaftung der Blum-Bande in den Zeitungen verfolgt, und ich sagte ihr, daß sie, falls sie je ein Foto des Mannes mit dem Loch in der Wange gesehen hätte - endlich gefaßt oder getötet -, vermutlich das Gefühl eines großen Verlustes gehabt hätte.
»Ich doch nicht«, sagte Utsch. (Jahre später sagte sie in solchen Fällen: »Psychologie ist
Weitere Kostenlose Bücher