Eine Nacht zum Sterben
alte Kommode. Es war düster, das graue Tageslicht konnte den Raum kaum erhellen; aber zwei große Altarkerzen brannten zu beiden Seiten einer Statue der Jungfrau Maria; sie gaben genug Licht für das, was er vorhatte.
Unter dem Bett lag ein Koffer, aber er enthielt nur Kleidungsstücke. Er tat alles wieder an seinen Ort und schob den Koffer außer Sichtweite. Dann ging er die Schubladen durch und fand die Fotos. Sie entsprachen genau Jones’ Beschreibung. Chavasse sah sie sich in dem flackernden Kerzenlicht an, und Rossiters Gesicht war unverkennbar; er hatte sich wenig verändert.
Er legte sie wieder an ihren Platz und durchsuchte die anderen Schubladen. Darin war nichts von Bedeutung. Blieben nur noch die Bücher, die auf dem Fensterbrett sehr ordentlich nebeneinander aufgestellt waren. Die Bibel, eine Biographie vom heiligen Ignatius von Loyola, Das Reich Gottes und diverse Kommentare. Dann standen da noch ein paar Ausgaben der Worte des Vorsitzenden Mao und Das Kapital , eine wirklich vielfältige Sammlung von Büchern also.
Er überzeugte sich noch einmal, daß er alles hinterließ, wie er es vorgefunden hatte, machte dann vorsichtig die Tür auf und ging hinaus. Jones trat aus einer dunklen Nische des Korridors und lächelte.
»Habe ich recht gehabt?« fragte er gelassen.
Chavasse nickte. »Haarscharf.«
»Das verfolgt mich seit meiner Geburt. Immer behalte ich recht; es fängt an, mich zu langweilen.«
Draußen auf dem Hof hörte man ein Auto anhalten. Sie gingen an das Fenster am Ende des Flurs und sahen hinaus. Ein Mercedes stand vor dem Eingang zum Haus, Rossiter und Jacaud kamen auf den Hof. Jacaud hielt die hintere Tür auf, und ein Mann in einem schweren Mantel mit einem riesigen Kragen und einem schwarzen, altmodischen Filzhut stieg aus. Es war ein Chinese mit einem runden, glatten und undurchdringlichen Gesicht, das wenig über sein Alter verriet.
»Mann, allmählich werden wir ja ein Verein wie die UNO«, flüsterte Jones.
Chavasse nickte. Der Mercedes fuhr wieder fort, und Jacaud nahm den Koffer des Neuankömmlings. »Das muß der letzte Passagier sein. Am besten gehen wir jetzt runter und sehen ihn uns mal an.«
Rossiter war schon dabei, den Chinesen allen übrigen Anwesenden vorzustellen, und als Chavasse und Jones erschienen, wandte er sich lächelnd an sie. »Aha, nun sind wir alle beisammen. Meine Herren, Mr. Cheung.«
Der Chinese kam auf sie zu und schüttelte die Hände. Er lächelte sehr liebenswürdig; aus der Nähe betrachtet, mochte man ihn auf fünfundvierzig Jahre schätzen. »So, Sie sind Australier?« sagte er zu Chavasse. »Ich mache sehr oft Geschäfte mit Firmen in Ihrem Land. Ich bin aus Hongkong.«
Die Begrüßung mit Jones fiel ziemlich förmlich aus, und dann zog er sich mit Rossiter und Jacaud zurück; Jacaud sah bleich und krank aus, auf seiner Stirn klebte ein großes Heftpflaster.
»Wenigstens hat er mir die Hand gegeben«, meinte Jones.
»Die mögen die Schwarzen nicht, haben Sie das gemerkt?«
»Ein Chinese hält jeden Angehörigen einer anderen Rasse für minderwertig«, sagte Chavasse. »Sie brauchen also kein Mitleid mit sich selbst zu haben. Mich verachtet er genauso.«
Er nahm sich Ölzeug, das an den hölzernen Haken im Flur hing. Jones sah ihm zu. »Haben Sie was vor?«
»Ich will ein bißchen an die frische Luft.«
»Darf ich mich anschließen?«
»Hab nichts dagegen.«
Der Neger zog sich auch Ölzeug an, und sie gingen hinaus in den Regen. Der Wind hatte sich gelegt, und die Regentropfen fielen in senkrechten Bahnen auf die Erde.
St. Denise war kaum noch zu erkennen. Chavasse schlug einen Weg ein, der durch die Kiefern über die Dünen zum Strand führte; er wollte nachdenken.
Da gab es also die Organisation mit ihrer klaren und eindeutigen Zielsetzung: sie brachte Leute über den Kanal nach England ohne die üblichen Formalitäten; der Preis waren bescheidene vierhundert Pfund, zahlbar vorher und auf die Hand. Nur einen Haken hatte die Sache: Die Organisation war unter bestimmten Umständen bereit, ihre Passagiere in Ketten gewickelt über Bord gehen zu lassen. Und wenn man Jacaud und Rossiter bei Licht betrachtete, kam einem das gar nicht mehr so abwegig vor.
Wer war Rossiter? Ein Jesuit, der seinen Glauben verloren hatte; und zwar vermutlich in der Zeit des Koreakrieges, dieser jahrelangen, blutigen und grausamen Auseinandersetzung mit China. Hamid, Famia und Mrs. Campbell paßten ins Bild, und auch Jones war auf seine Weise
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