Eine Studie in Scharlachrot
rasch trockenleckte. Sherlock Holmes’ ernstes Auftreten hatte uns alle so weit überzeugt, daß wir schweigend da saßen, das Tier aufmerksam beobachteten und irgendeine schreckliche Wirkung erwarteten. Es stellte sich jedoch nichts Derartiges ein. Der Hund lag weiter ausgestreckt auf dem Kissen und atmete mühevoll, aber durch den Trank schien es weder besser noch schlimmer geworden zu sein.
Holmes hatte seine Uhr gezogen, und als Minute nach Minute ergebnislos verstrich, trat ein Ausdruck von großem Kummer und Enttäuschung auf seine Züge. Er kaute auf seiner Lippe, trommelte mit den Fingern auf den Tisch und wies auch alle sonstigen Symptome akuter Ungeduld auf. Seine Gemütsbewegung war so groß, daß er mir ernstlich leid tat, während die beiden Detektive hämisch lächelten und über diesen Rückschlag, den er erlitten hatte, keineswegs ungehalten waren.
»Es kann doch kein Zufall sein«, rief er, als er schließlich aus seinem Sessel aufsprang und wie toll im Raum auf und ab lief. »Unmöglich, daß es ein reiner Zufall sein soll. Genau die Pillen, gegen die sich im Fall Drebber mein Verdacht richtet, werden nach Stangersons Tod tatsächlich gefunden. Und trotzdem sind sie harmlos. Was kann das nur bedeuten? Es kann doch bestimmt nicht meine ganze Denkkette falsch gewesen sein. Das ist unmöglich! Und trotzdem geht es diesem elenden Hund kein bißchen schlechter. Ah, ich hab’s! Ich hab’s!« Mit einem wahrhaften Kreischen der Wonne stürzte er sich auf die Schachtel, schnitt die andere Pille entzwei, löste sie auf, gab Milch hinzu und setzte alles dem Terrier vor. Die Zunge der unglücklichen Kreatur schien noch kaum davon benetzt, als das Tier mit allen Gliedmaßen konvulsivisch zuckte und so starr und leblos dalag, als sei es vom Blitz erschlagen worden.
Sherlock Holmes holte tief Luft und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich sollte mehr Selbstvertrauen haben«, sagte er. »Ich sollte doch inzwischen wissen, daß es, wenn eine Tatsache einer langen Kette von Deduktionen zu widersprechen scheint, sich unweigerlich herausstellt, daß man sie auch ganz anders interpretieren kann. Eine der beiden Pillen in dieser Schachtel war ein überaus tödliches Gift, und die andere war völlig harmlos. Das hätte ich wissen müssen, noch ehe ich die Schachtel überhaupt gesehen hatte.«
Diese letzte Äußerung erschien mir unbegreiflich, und ich konnte kaum glauben, daß er sich bei vollem Verstande befand. Da gab es jedoch den toten Hund als Beweis dafür, daß Holmes’ Mutmaßung zutreffend gewesen war. Die Nebel in meinem Hirn schienen sich nach und nach zu heben, und ich begann, mir eine undeutliche, vage Vorstellung von der Wahrheit zu machen.
»All das erscheint Ihnen seltsam«, fuhr Holmes fort, »weil Sie zu Beginn dieser Ermittlung nicht begriffen haben, wie wichtig der einzige wirkliche Hinweis war, der sich Ihnen dargeboten hat. Ich hatte das Glück, dies sofort zu erfassen, und alles, was sich seither ereignet hat, hat meine ursprüngliche Annahme bestätigt und war tatsächlich nur eine logische Folge daraus. Daher kommt es, daß Dinge, die Sie verwirrt und den Fall für Sie noch dunkler gemacht haben, zu meiner Erleuchtung und zur Stärkung meiner Folgerungen gereichten. Es ist ein Fehler, Seltsames mit Mysteriösem zu verwechseln. Oft ist das allergewöhnlichste Verbrechen das allermysteriöseste, weil es keine neuen oder besonderen Kennzeichen bietet, aus denen Deduktionen abgeleitet werden können. Es wäre unendlich viel schwieriger gewesen, diesen Mord zu entwirren, wenn man die Leiche des Opfers ganz einfach auf der Straße liegend gefunden hätte, ohne einen einzigen dieser
outré
und sensationell anmutenden Begleitumstände, die ihn so bemerkenswert gemacht haben. Diese seltsamen Einzelheiten haben den Fall bei weitem nicht schwieriger, sondern im Gegenteil weniger schwierig gemacht.«
Mr. Gregson, der dieser Ansprache mit beträchtlicher Ungeduld gelauscht hatte, konnte nicht länger an sich halten. »Hören Sie mal, Mr. Sherlock Holmes«, sagte er. »Wir sind ja alle bereit zuzugeben, daß Sie schlau sind und Ihre eigenen Arbeitsmethoden haben. Wir brauchen jetzt aber ein bißchen mehr als bloße Theorie und Vorträge. Es geht darum, jemanden festzunehmen. Ich habe meinen Fall zurechtgelegt, und es sieht so aus, als ob ich mich geirrt hätte. Der junge Charpentier kann mit dieser zweiten Sache nichts zu tun haben. Lestrade ist hinter seinem Mann hergewesen, Stangerson, und
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