Eine Studie in Scharlachrot
Lippen.
Danach gab es natürlich nichts anderes mehr zu tun. Ich habe festgestellt, wo Leutnant Charpentier sich aufhielt, zwei Beamte mitgenommen und ihn verhaftet. Als ich ihm die Hand auf die Schulter gelegt und ihn aufgefordert habe, ohne großes Aufsehen mit uns zu kommen, hat er uns frei heraus ins Gesicht gesagt: ›Ich nehme an, Sie verhaften mich, weil ich etwas mit dem Tod dieses Schurken Drebber zu tun habe.‹ Wir hatten ihm nichts darüber gesagt, also nimmt sich seine Anspielung darauf sehr verdächtig aus.«
»Und wie«, sagte Holmes.
»Er trug noch immer den schweren Stock bei sich, den er nach Beschreibung der Mutter hatte, als er Drebber gefolgt ist. Es war ein kräftiger Eichenknüppel.«
»Was ist denn nun Ihre Theorie?«
»Also, meine Theorie ist, daß er Drebber bis zur Brixton Road nachgegangen ist. Da ist es dann zwischen ihnen zu einem neuen Streit gekommen, und in dessen Verlauf hat Drebber einen Schlag mit dem Stock erhalten, vielleicht in die Magengrube, und das hat ihn getötet, ohne eine Wunde zu hinterlassen. In dieser Nacht hat es so sehr geregnet, daß niemand unterwegs war, also konnte Charpentier den Leichnam seines Opfers in das leerstehende Haus schleppen. Was die Kerze und das Blut und die Schrift an der Wand angeht, und den Ring, so kann es sich bei alledem um Tricks handeln, um die Polizei auf die falsche Fährte zu führen.«
»Gut gemacht!« sagte Holmes; seine Stimme klang ermutigend. »Also wirklich, Gregson, Sie machen sich. Aus Ihnen kann noch etwas werden.«
»Ich schmeichle mir, daß ich die Sache sehr schön erledigt habe«, erwiderte der Detektiv stolz. »Der junge Mann hat eine Aussage gemacht; darin behauptet er, er sei Drebber eine Weile gefolgt, dann habe dieser ihn bemerkt und eine Droschke genommen, um ihm zu entkommen. Auf dem Heimweg will er dann einen alten Schiffsgenossen getroffen und mit ihm einen langen Spaziergang unternommen haben. Auf die Frage, wo denn sein alter Schiffsgenosse wohnt, hat er keine befriedigende Antwort geben können. Ich glaube, alle Einzelteile des Falls passen ungewöhnlich gut zusammen. Ich muß aber lachen, wenn ich an Lestrade denke, der einer völlig falschen Fährte nachgeht. Ich fürchte, viel wird für ihn nicht dabei herauskommen. Aber beim Zeus – da ist er ja selbst!«
Es war tatsächlich Lestrade, der die Treppe heraufgekommen war, während wir redeten, und der nun den Raum betrat. Die selbstsichere Forschheit, die normalerweise seine Haltung und Kleidung auszeichnete, fehlte jedoch. Sein Gesicht war verstört und bekümmert, und seine Kleidung war in Unordnung und verschmutzt. Offenbar war er in der Absicht gekommen, sich mit Sherlock Holmes zu beraten, denn als er seinen Kollegen erblickte, wirkte er peinlich berührt und aus der Fassung gebracht. Er stand mitten im Zimmer, fummelte nervös an seinem Hut herum und war unentschlossen, was er als nächstes tun sollte. »Das ist ein ganz ungewöhnlicher Fall«, sagte er schließlich, »eine überaus unbegreifliche Angelegenheit.«
»Ach, finden Sie, Mr. Lestrade?« rief Gregson triumphierend. »Ich habe mir wohl gedacht, daß Sie zu dieser Schlußfolgerung gelangen würden. Ist es Ihnen gelungen, den Sekretär, Mr. Joseph Stangerson, zu finden?«
»Der Sekretär, Mr. Joseph Stangerson«, sagte Lestrade ernst, »wurde gegen sechs Uhr heute früh in Hallidays Pension ermordet.«
7. Licht in der Dunkelheit
Die Nachricht, mit der Lestrade uns begrüßte, war so gewichtig und so unerwartet, daß wir alle drei zunächst ganz sprachlos waren. Gregson sprang aus seinem Sessel auf und verschüttete den Rest seines verdünnten Whiskys. Ich starrte schweigend Sherlock Holmes an, der die Lippen zusammenpreßte und die Brauen über die Augen herabgezogen hatte.
»Stangerson also auch!« murmelte er. »Die Affaire verdichtet sich.«
»Sie war vorher schon dicht genug«, grollte Lestrade; er ergriff einen Stuhl. »Ich scheine ja in eine Art Kriegsrat geplatzt zu sein.«
»Sind Sie – sind Sie sicher, was diese Sache angeht?« stammelte Gregson.
»Ich bin eben aus seinem Zimmer gekommen«, sagte Lestrade. »Ich habe als erster entdeckt, was da passiert ist.«
»Wir haben uns Gregsons Ansichten in dieser Angelegenheit angehört«, bemerkte Holmes. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns wissen zu lassen, was Sie gesehen und unternommen haben?«
»Ich habe nichts dagegen«, antwortete Lestrade; er ließ sich nieder. »Ich will offen zugeben, ich war der Meinung,
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