Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
ich war im Krankenhaus, das weiß ich genau. Von diesem Zeitpunkt an kann ich mich nämlich zusammenhängend erinnern. Ich lag allein in einem Zimmer und habe immer wieder nach meinen Eltern gefragt, doch niemand wollte mir eine Antwort gegeben. Eines Tages wurde ich von einer fremden Frau abgeholt. Sie trug eine schwarze Tracht wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Heute weiß ich, dass sie eine Nonne war. Ich ging bereitwillig mit, weil ich dachte, dass sie mich nach Hause bringen würde. Aber ich kam in ein großes düsteres Haus, in dem es viele Kinder gab und Nonnen, die über sie wachten. Da habe ich angefangen zu schreien und mich zu wehren. Ich war der Überzeugung, die fremde Frau hätte mich entführt und meine Eltern würden verzweifelt nach mir suchen. Da haben sie mich allein in einen dunklen Raum gesperrt, aus dem ich erst wieder raus durfte als ich mich beruhigt hatte. "
Melissa schwieg einen Moment, um sich zu sammeln. Wie oft mochte sie diese Ereignisse wohl schon für sich allein rekapituliert haben? Sie kamen ihr sehr flüssig von den Lippen und sie erzählte merkwürdig unbeteiligt, als würde sie die Erlebnisse einer anderen Person wiedergeben. Gern hätte ich einiges mit ihr vertieft, doch ich wollte sie auf keinen Fall aus dem Konzept bringen. Außerdem sprach sie auch schon weiter.
"Ich wollte weglaufen, aber das war unmöglich, da die Tür immer verschlossen war. Es gab einen Flur mit riesengroßen Fenstern, die bis zur Erde reichten. Da habe ich stundenlang gestanden und nach draußen gestarrt. Ich wollte gucken, ob meine Eltern mich holen kommen. Ein Mädchen hat mich gefragt, was ich da machen würde. Ich habe ihr erklärt, dass ich auf meine Eltern warten würde. Sie hat mich ausgelacht und gesagt, meine Eltern kämen nie mehr, weil sie tot sind, so wie die Eltern aller Kinder in diesem Haus. Das Mädchen war größer und stärker als ich, aber ich habe sie geschlagen. Dafür haben mich die Nonnen dann wieder eingesperrt, diesmal in eine ganz enge Kammer. Ich glaube, daher kommt meine Klaustrophobie."
Auch in diesem, doch eigentlich hochdramatischen Teil ihres Berichtes, klammerte sich Melissa nur an Äußerlichkeiten. Der Name des Mädchens war ihr noch geläufig, ebenso wie die Farbe der Fenstervorhänge und die Beschaffenheit der Wände der Kammer.
"Wie fühlst du dich jetzt, wenn du daran zurückdenkst?", fragte ich.
Melissa ließ ihren Blick teilnahmslos durch das Zimmer schweifen. Dann sah sie mir direkt in die Augen. Sie schien über die Frage erstaunt. "Was meine Eltern betrifft, fühle ich das Gleiche wie damals. Ich habe Sehnsucht nach ihnen, aber ich habe nie um sie getrauert. Weil ich nicht glauben kann, dass sie tot sind. Ich habe das immer wie eine Verschwörung empfunden - Jemand hat uns gewaltsam getrennt und ich muss sie finden."
"Und was die Nonnen betrifft? Was sie mit dir gemacht haben? Bist du wütend?"
Melissa deutete ein leichtes Kopfschütteln an: "Nein, bin ich nicht. Es war ja wirklich nicht richtig von mir, dass ich das Mädchen geschlagen habe. Die meisten der Nonnen waren eigentlich recht nett - bis auf eine. Die hat mich ein Satanskind genannt und gesagt, dass ich mal in die Hölle komme. Aber sie hatte wohl selbst eine größere Angst vor der Hölle als ich."
An dieser Stelle fiel mir auf, dass Melissa ihre Gefühle entweder verdrängte oder bewusst vor anderen verbarg. Auch über die folgenden Geschehnisse berichtete sie präzise und völlig emotionslos.
"Ich bin nur für kurze Zeit im Waisenhaus geblieben, da ich bald adoptiert wurde. Meine Adoptiveltern hatten es anfangs nicht leicht mit mir, weil ich überhaupt nicht begriffen habe, wieso ich jetzt bei ihnen leben sollte und entsprechend störrisch war. Sie haben mich ja dann auch gleich zu den Großeltern gegeben und danach ins Internat."
Ich stutzte. Wieso adoptierte man ein Kind und reichte es dann gleich wieder weiter? Melissa beantwortete meine unausgesprochene Frage.
"Meine Adoptivmutter war überzeugt, keine eigenen Kinder bekommen zu können. Doch kaum hatten sie mich zu sich geholt, wurde sie plötzlich doch noch schwanger. Sie war schon Mitte 40 und es war wohl ziemlich belastend für sie. Jedenfalls brauchte sie viel Ruhe und konnte sich nicht auch noch um mich kümmern."
"Und dein Adoptivvater?", warf ich ein.
"Der hatte erst recht keine Zeit. Er war schließlich ein viel beschäftigter Top-Manager."
Mir kam ein Gedanke. "Ist Morgenroth der Name deiner Adoptiveltern?",
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