Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
1.
Der Tag, an dem Melissa in mein Leben trat, fing schon unheilverkündend an. Bereits in der Nacht zuvor hatten mich wirre Alpträume geplagt. Von einem schattenhaften Verfolger in immer neue Sackgassen getrieben, war ich mehrmals schweißgebadet aufgewacht.
Prompt verschlief ich daher am nächsten Morgen. Als ich nach einer Katzenwäsche und ohne Frühstück aus dem Haus stürzte, fühlte ich mich ausgelaugt und niedergeschlagen. Das war völlig untypisch für mich, hatte ich doch die seit dem Antritt meiner neuen Arbeitsstelle vergangenen drei Monate in einem wahren Glücksrausch durchlebt. Normalerweise machte ich mich jeden Morgen voller Elan auf den Weg in die Praxis. Vielleicht hing meine gedrückte Stimmung auch mit dem Wetter zusammen. Nach warmen, sonnigen Herbsttagen hatte nun der November mit Kälte, Sturm und Nieselregen Einzug gehalten. Als ich aus dem Haus trat, umfingen mich kühle Nebelschwaden, die mir die Sicht raubten und mich erschauern ließen. Die Gehwege waren mit nassem Laub bedeckt, auf dem ich bei jedem Schritt auszurutschen drohte.
Zu allem Überfluss hatte die Fußgängerampel in der Lindenallee gerade auf Rot geschaltet. Die Lindenallee war eine wenig befahrene Straße und die Ampel ein Zugeständnis an die nahe gelegene Kita. Meistens ignorierte ich sie deshalb, doch angesichts des Nebels wollte ich das trotz meiner Eile nicht riskieren. Brav positionierte ich mich hinter die anderen Wartenden und musterte sie flüchtig. Fast automatisch entwickelte ich dabei eine ungefähre Vorstellung von ihrer Lebenssituation. Was viele meiner Freunde als Berufskrankheit belächelten, war für mich eine nützliche Übung. Schließlich gehörte es einfach zu meiner Arbeit, mir schnell ein erstes Bild von anderen Menschen machen zu können.
Ganz vorn an der Bordsteinkante stand ein Paar im mittleren Alter, dahinter eine junge Frau in Jeans und Parka, die wie eine Studentin aussah. Sie hatte eine Skizzenmappe unter den Arm geklemmt und wippte unruhig mit den Füßen hin und her. Das Paar wirkte auf mich als würde es auf eine langjährige Beziehung zurückblicken können, die sich aber nun unweigerlich ihrem Ende zuneigte. Sie stritten die ganze Zeit über und es war diesem Streit anzumerken, dass sie ihn in der gleichen Form wohl schon hunderte Male miteinander ausgetragen hatten. Jetzt schien er nur noch ein Ritual zu sein, in dem jeder seine Rolle kannte. Vermutlich kamen sie auch deshalb mit einem so bemerkenswert geringen Wortschatz aus.
"Ich war das nicht!", sagte der Mann und dehnte die Worte in die Länge, um damit anzudeuten, wie sehr ihn der nicht näher bezeichnete Vorwurf nervte.
"Du warst das!", erwiderte die Frau in einer schrillen keifenden Tonlage.
"Ich war das nicht!", wiederholte der Mann. Diesmal klang es noch um eine Nuance gedehnter und eine Spur amüsiert.
Das brachte die Frau offenbar so richtig in Rage. "Du warst das! Du warst das! Du warst das!", schrie sie unbeherrscht, wobei sich ihre Stimme fast überschlug. Der Mann ließ ihren Ausbruch völlig ungerührt über sich ergehen.
Die Studentin hinter dem Paar wirkte dagegen auffallend nervös. Krampfhaft umklammerte sie ihre Mappe, warf dann ihren Kopf ruckartig in den Nacken und atmete mit offenem Mund hastig ein und aus. Ob sie wohl unter Zeitdruck stand oder sich vor einem anstehenden Termin fürchtete? Bevor ich weiter darüber spekulieren konnte, schaltete die Ampel auf Grün. Das Paar betrat eilig die Fahrbahn und kurz bevor es in den Nebelschwaden verschwand, bemerkte ich, dass es sich trennte. Der Mann und die Frau strebten in entgegengesetzte Richtungen eilig voneinander fort.
Die junge Frau tat ebenfalls einen Schritt nach vorn und sank, völlig unvermittelt, lautlos in sich zusammen. Reflexartig streckte ich die Arme nach ihr aus und konnte so gerade noch verhindern, dass sie auf dem Boden aufschlug. Die Situation hatte etwas Surreales. Weit und breit waren weder Menschen noch Fahrzeuge zu sehen. Der Nebel schien sich zu verdichten und auch sämtliche Geräusche zu verschlucken. Einen Augenblick lang fühlte ich mich von der Umwelt abgeschnitten, allein mit dieser reglosen Frau in meinen Armen, die so weiß wie eine Marmorstatue war - und leider auch so schwer. Als ich glaubte, sie keine Sekunde länger halten zu können, begannen ihre Lider zu flattern und sie schlug die Augen auf. Sie war sich der Situation sofort bewusst.
"Oh, tut mir leid", hauchte sie, als wäre ihr lediglich ein kleines peinliches
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