Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
frustriert und fast glaubte ich schon, dass sie auf die Behandlung verzichten würde. Nach kurzem Zögern unterschrieb sie aber doch die notwendigen Formulare und vereinbarte einen weiteren Termin mit mir. Dann ging sie und ließ mich nachdenklich zurück. Melissa war schon eine außergewöhnliche Frau. So außergewöhnlich wie der Blumenstrauß, den sie mir mitgebracht hatte. In meinem nur mit einer Liege, einer Sitzgruppe, sowie Bücherregal und Schreibtisch eher puristisch ausgestatteten Arbeitszimmer, bildete er einen leuchtenden Akzent. Die Kombination aus Christrosen, Silberdisteln und winzigen roten Rosenknospen wirkte höchst eigenwillig, doch sehr apart. Damals hatte ich noch keine Ahnung von Melissas Vorliebe für verschlüsselte Mitteilungen und versteckte Symbole. So verstand ich auch die Botschaft nicht, die dieser Strauß mir übermitteln sollte. Es war eine Botschaft von Angst und Gefahr – Grundmotive, die Melissas Therapie von Anfang an begleiten würden.
4.
Um die Mittagszeit wehte ein Hauch von edlem Parfüm durch die Räume - für mich ein sicheres Zeichen dafür, dass Ruth eingetroffen war. Ruth hielt nichts von dem betont nachlässigen Look, den manche Berufskollegen ganz bewusst pflegten. Sie hingegen war die Eleganz in Person. An diesem Tag war sie von Kopf bis Fuß in warme Herbstfarben gekleidet, was wunderbar zu ihrem üppigen, leuchtend roten Haar passte. Obwohl ich fast dreißig Jahre jünger war als sie, fühlte ich mich neben ihr unscheinbar. Mit meinem glatten, dunklen Haar und der blassen Gesichtsfarbe war ich nun mal kein auffälliger Typ. Nach Ruth drehten sich die Männer auf der Straße dagegen immer noch um. Manchmal empfand ich sogar leichte Anflüge von Neid und kam mir deshalb ausgesprochen schäbig vor.
Ich traf Ruth in der Küche an, die uns als Aufenthaltsraum diente. Sie las gerade ihre Emails und warf mir einen prüfenden Blick zu. Dann bemerkte sie, dass ich blass aussehen würde. Ich murmelte etwas von schlechtem Schlaf und Alpträumen. Tatsächlich hatte sich mein Verfolgungstraum in der vergangenen Nacht wiederholt. Ruth war sofort ganz interessiert und ließ sich meinen Traum erzählen.
"Und von wem oder was fühlst du dich momentan verfolgt?", fragte sie dann. Auch ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt, Träume auf diese Art zu hinterfragen und war dadurch schon zu mancher verblüffenden Einsicht gelangt. Heute nahm ich es aber ganz prosaisch.
"Vermutlich von einem Virus. Ich brüte wohl eine Erkältung aus, dann träume ich oft solchen Blödsinn. Das hat weiter keine Bedeutung."
Ruth gab nicht gleich auf: "Von Marko vielleicht ?", schlug sie vor. Ich schüttelte den Kopf. Es stimmte schon, dass Marko mich seit einiger Zeit mit häufigen Anrufen nervte. Obwohl er mit unserer Beziehung zum Schluss genauso unzufrieden gewesen war wie ich, konnte er nicht verwinden, dass ich diejenige gewesen war, die sie beendet hatte. Aber das Format zum Stalker hatte er nicht. Das sagte ich Ruth auch.
"Jetzt hast Du mir das Stichwort gegeben", erwiderte sie. "Wir haben einen neuen Fall. Eine Stalkerin. Ich hoffe ehrlich gesagt, dass du sie übernehmen kannst. Willst du? Einfach wird das allerdings nicht."
Und ob ich wollte. Jeder neue Fall war eine spannende Herausforderung. Ruth zwinkerte mir zu.
"Dein Enthusiasmus ist wirklich erfrischend. Dabei sind Stalker absolut keine dankbaren Patienten. Sie haben keinen entsprechenden Leidensdruck und sehen überhaupt nicht ein, dass sie Hilfe brauchen. Jedenfalls nicht die, die wir ihnen anbieten."
"Aber wie kommt die Patientin dann überhaupt zu uns?", fragte ich. "Auflage vom Gericht?"
Ruth hob abwehrend die Hände: "Nein, zum Glück nicht, und so weit sollte es nach Möglichkeit auch nicht kommen. Das Objekt ihrer Begierde ist ausgerechnet ein Lehrer ihres Sohnes. Sie lauert ihm fast täglich auf dem Schulgelände auf, und die Schüler haben das natürlich inzwischen mitgekriegt und lästern entsprechend. Der Sohn der Patientin ist 13 Jahre alt, hat auch so schon genug Probleme und soll das nun ständig aushalten. Das schafft er natürlich nicht. Er prügelt sich in den Pausen und pöbelt gegen sämtliche Lehrer. Die haben ihn schließlich zu Dr. Lohmeier geschickt. Der hat schnell herausgefunden, was hinter dem Verhalten des Jungen steckt und die Mutter überredet, sich in unserer Praxis zu melden. Das hat ihn sicher harte Überzeugungsarbeit gekostet."
Dr. Lohmeier war Kinderpsychologe und hatte uns schon häufig
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