Eine unbegabte Frau
1. Kapitel
Die Sache mit der kleinen Frau interessierte den Oberarzt und bekümmerte ihn zugleich. Ihre Todesnähe rührte ihn. Konnte er diesem ausgemergelten Körper, diesem flatternden Herzen gar nicht mehr helfen, dieser hinfälligen menschlichen Hülse, die der ungeheure chinesische Kontinent an seine Tür geschwemmt hatte? Sollte ihr Abschied so rätselhaft bleiben wie ihre Ankunft? Der Fall beschäftigte ihn über die berufliche Anteilnahme hinaus und nahm seine Gedanken gefangen.
Der Tod war nahe; der Arzt zweifelte nicht daran. Wer diese Frau war, niemand wußte es. In dem China von 1941, in das der japanische Eroberer an vielen Fronten hereindrückte, während die eine Hälfte der Welt in wütendem Gemetzel mit Panzern und Flugzeugen, Kanonen und Schiffen die andere zu zerstören suchte, war der gewaltsame Tod jedem so nachbarlich vertraut, daß kein Mensch das Erlöschen einer kleinen, unbekannten Frau wichtig nahm.
Die wenigen Europäer der Skandinavisch-Amerikanischen Mission von Hsing Ping weit draußen in Nordwestchina kannten weder ihren Namen, noch wußten sie, woher sie gekommen war. Zwei chinesische Bauern hatten am Eingangstor die kleine Frau ohne viel Federlesens aus ihrem Ochsenkarren hervorgezogen und wie ein Bündel Lumpen auf die Schwelle gelegt.
»Wenn es eine Chinesin gewesen wäre, hätten wir sie sterben lassen, wo sie war«, erklärten sie mit fatalistischem Achselzucken dem Pförtner. Aber sie war eine Fremde, das hatten die Männer trotz ihrer chinesischen Kleidung und der chinesischen Bibel, die sie bei sich trug, bemerkt. Darum fanden sie es schicklicher, wenn sie bei ihren Freunden starb und ihre Seele zu ihren eigenen Göttern gehen konnte.
Den Pförtner interessierte weder die Philosophie der beiden Bauern noch die Leiche, denn den Körper, den sie ablieferten, konnte man dafür halten. Er hatte sich also weder erkundigt, wo sie die Frau gefunden hatten, noch, wo sie selbst herkamen. So verschwanden die Bauern wieder mit ihrem Karren im Unbekannten, und der Pförtner ging ins Haus, um zu melden, daß eine Tote vor der Türe liege.
Die Mission fragte sofort telegrafisch bei dem Baptistischen Missionskrankenhaus in Sian an, ob man einen Arzt schicken könne. Und mit der selbstverständlichen Hilfsbereitschaft, die für dieses Haus so charakteristisch war, nahm der Oberarzt den nächsten Zug.
Er untersuchte den mageren, unterernährten Körper der kleinen Frau. Über ihren Rücken zog sich die frische Narbe einer Schußwunde; sichtlich litt die Patientin an inneren Verletzungen, mit denen sie sich seit Monaten herumgequält haben mußte und die, wie sich später herausstellte, von brutalen Schlägen herrührten. Leiden und äußerste Erschöpfung hatten tiefe dunkle Furchen in ihr Gesicht gegraben. Sie hatte hohes Fieber und war nicht davon abzubringen, daß der Oberarzt ein japanischer Offizier sei.
Der Arzt vermutete schwere Malaria. Eine Blutprobe, mit der ein Bote zu seinem Krankenhaus in Sian geschickt wurde, bestätigte die Diagnose. Er gab der Kranken eine Injektion, die das Fieber innerhalb von zwei Tagen senken würde. Inzwischen war eine Pflegerin eingetroffen, deren Händen er die Patientin anvertraute, denn nur die Zeit und eine sorgsame Pflege konnten hier helfen. Er kehrte nach Sian zurück mit dem Gefühl, daß er getan hatte, was in seinen Kräften stand.
Fünf Tage später jedoch schrieb man ihm, daß die Unbekannte wieder heftig fiebere. Ihre Temperatur sei plötzlich auf zweiundvierzig Grad geschnellt, und sie sei in höchster Gefahr. Er fuhr sofort wieder nach Hsing Ping. Die Haut der Patientin zeigte die kleinen roten Flecken, die für Typhus bezeichnend sind! Sie mußte sich schon infiziert haben, als sie noch vom Fieber der Malaria geschüttelt wurde. Drei Ärzte seines Krankenhauses waren in den letzten Jahren an Typhus gestorben. Die Widerstandskraft dieser Frau aber war durch Hunger, Not und Erschöpfung gleich Null. Der Arzt wagte kaum zu hoffen — besonders, als er bei der Untersuchung auch noch eine Lungenentzündung feststellte.
Es war ein gesegneter Zufall, daß einer der Missionare, der soeben vom Urlaub in USA zurückgekehrt war, in seinem persönlichen Gepäck zwanzig Tabletten des neuen Medikaments Sulfapyrimichn mitgebracht hatte; er bot es dem Oberarzt ohne zu zögern an. Mit Hilfe des Medikaments gelang es, der Lungenentzündung Herr zu werden. Doch wollte man die vergehende Flamme dieses Lebens zu retten versuchen, so war die rasche
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