Eine unbegabte Frau
Überführung in das Krankenhaus nach Sian unvermeidlich.
Der Oberarzt lebte seit nahezu zwanzig Jahren in China. Er war bei der Belagerung von Sian mit eingeschlossen gewesen, während zwei feindliche Armeen um die Stadt kämpften und zwanzigtausend Menschen Hungers starben. Deshalb hatte er hier viele Verbindungen und einigen Einfluß; er telefonierte mit einem Freund, der den Eisenbahndistrikt verwaltete.
»Lokvogel«, sagte er zu dem Herrn der Lokomotiven und gebrauchte dessen Spitznamen, »morgen brauche ich einen Sonderwagen, welcher an den ersten Zug angehängt werden muß, der abfährt. Wir haben hier eine Schwerkranke, die wir im Feldbett zum Bahnhof tragen werden. Vier Helfer kommen mit und halten das Bett während der Fahrt. Kannst du mir den Gefallen tun? Es ist dringend.«
Lokvogel versprach es. Wenn die kleine Frau, die im Delirium lag, das geahnt hätte — ein Sonderwagen für sie allein, nach allem, was sie durchlitten hatte — , sie hätte wohl gelacht, bis ihr die Tränen gekommen wären...
Träger erwarteten den Zug in Sian und brachten die bewußtlose Frau ins Krankenhaus. Eine der Ärztinnen hatte ihr eigenes Zimmer geräumt, um der todkranken Frau die Wohltat eines größeren, luftigen Raumes zu gewähren. Miß Nelson und die Oberin, Miß Major, pflegten sie.
Vierzehn Tage später ließ das Typhusfieber langsam nach, aber die kleine Frau fand noch nicht zu völliger geistiger Klarheit zurück. Nach wochenlanger Ruhe bombardierten die Japaner plötzlich wieder Sian. Der Oberarzt blieb bei seiner Patientin, als die Bomben fielen. Ihr leichter, ausgemergelter Körper zuckte und warf sich empor vor Angst bei dem pfeifenden Stürzen jeder Bombe. Das Dröhnen und Krachen schüttelte den Raum, kalter Schweiß lief ihr über das Gesicht und die Glieder. Der Arzt, der in seiner langen Praxis noch nie einen solchen Durchbruch aufgestauten Schreckens bei einem Patienten erlebt hatte, hielt ihre beiden Hände und versuchte, sie zu beruhigen. Ihm wurde klar, daß er die kleine Frau, die er mit so viel Mühe in das Krankenhaus von Sian geholt hatte, nun mit noch viel größerer Mühe wieder hinausbringen mußte — an einen ruhigeren Ort. Denn die Luftangriffe dauerten sicher an, und ebenso sicher war es, daß die kleine Frau an ihnen zugrunde ging. Ohnehin schien sie nur im Vorraum des Todes zu warten, bis die letzte Tür sich vor ihr öffnete.
Noch immer war sie allen ein Rätsel. Einmal sah die Pflegerin, wie ein krampfhafter Schmerz ihr Gesicht verzerrte, und hörte sie flüstern: »Meine Kinder?« Sie stöhnte. »Wo sind meine Kinder? Die Japaner sind da. Sie werden uns töten. Sie werden uns töten!«
Das Flüstern ging in einen Schrei über, und plötzlich phantasierte sie in einem eigentümlichen Chinesisch, das niemand verstand; später erwies es sich als einer der Dialekte der wilden Bergländer weit oben im Norden. Das Rasen des Deliriums ließ nach. Ein schwaches Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der Leidenden aus. Schmerzliche Sehnsucht klang aus den mühselig geformten Worten:
»Denkst du noch an den ersten Abend, als der Flieder blühte? Wie ging das Liedchen? Dang — dang — dang, dideldang — dang — dang...«
Seltsam klangen diese Töne aus der beengten Kehle in dem heißen Raum, wo die Ventilatoren sich in hypnotisierender Monotonie drehten und die Fliegen faul unter der weißgetünchten Zimmerdecke surrten. Kurze, ungewisse Töne eines Liedes, das vor zehn Jahren — oder war es vor einem Menschenalter? — die jungen Burschen zu wahren Pfeifkünstlern hatte werden lassen.
Langsam, unglaublich langsam nahm endlich das verstörte Bewußtsein der Kranken ihre Umgebung wahr; zunächst aber griff ihr Geist sprunghaft das eine auf und wich dem andern aus. Fliegen — die saßen auf den Gesichtern der Toten in Yang Cheng. Was wollte nur dieser Herr mit dem Klinikgeruch, der sich mit sanfter Energie Tag für Tag über sie beugte und in ihrer Vergangenheit herumstöberte? Aber es war angenehm, hier zu liegen, in einer verdämmernden Welt mit huschenden Farben und Fieberphantasien, und den Geist durch die Jahre rückwärts treiben zu lassen, wohin er wollte.
Erfüllte Jahre waren es, niemand konnte sie ihr nehmen. »Ihr Name?« fragte der Arzt. Ihr Name? Aber den kannte doch jeder. In einer Provinz, so groß wie England, kannte doch jeder ihren Namen. Ai-weh-deh, Schale der Tugend! Doch den chinesischen Namen wollten sie nicht, sie wollten ihren englischen Namen. — Ja, den
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