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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Kratzmuster darauf zur Geltung brachte. Jetzt erst fiel mir auf, dass dahinter eine gerahmte Karte an der Wand hing, und als er sie abnahm und vor mir auf den Tisch legte, sah ich, dass es eine uralte Karte von Afghanistan war.
    Mittlerweile hat man die Umrisse dieses Landes, weiß der Himmel, oft genug in der Tagesschau gesehen. Mich erinnert es immer an ein breitgeklopftes paniertes Schnitzel aus der Dorfgaststätte, mit einem knubbeligen schmalen Fortsatz am rechten oberen Eck. Auf genau dieses Anhängsel legte er den Finger und erklärte: »Der Hindukusch. Eine achthundert Kilometer lange Hochgebirgsregion, dem Pamir-Gebirge und der Himalaya-Hochebene vorgelagert, Wasserscheide zwischen dem Amu Darya Tal und dem Einzugsgebiet des Indus, und im Altertum ein militärisch höchst bedeutsames Hindernis auf dem Weg nach Indien.«
    »Ah ja«, machte ich mit dem schlechten Gewissen, das mich in solchen Momenten immer befällt, weil ich dann merke, wie wenig ich in Geografie und Geschichte bewandert bin.
    »Wussten Sie eigentlich«, fuhr er mit feinem Schmunzeln fort, »dass der Hindukusch niemals erobert wurde, seit es Afghanistan gibt? Die Russen haben sich die Zähne an diesem Gebiet ausgebissen, und die Taliban haben es erst gar nicht versucht. Und als die Amerikaner hinkamen …« Er zögerte einen Moment, aber doch lange genug, dass ich merkte, wie er sich überwinden musste. »Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die ich aus den Gründen, die ich vorhin genannt habe, nicht selber schreiben kann. Aber Sie könnten es. Sie könnten mir Ihre Stimme leihen und es klingen lassen wie etwas Ausgedachtes.«
    Natürlich war ich neugierig. Natürlich konnte ich nicht widerstehen. Natürlich sagte ich: »Einverstanden.«
     
    »Indscha chub nist« , sagt Ahmad Wahil, und das heißt, dass es hier nicht gehen wird. Er erhebt sich von der Stelle, an der er gekniet und das Eis abgehorcht hat, das den Fluss wie kalte weiße Lava bedeckt. Die Karawane aus Kamelen und Packpferden wartet geduldig. Es ist erbarmungslos kalt, doch die panzerdicke Eisschicht hat Risse, durch die man das tückisch gurgelnde Wasser hören kann, das darunter lauert. Hier ist kein Fehler erlaubt. Einbrechen bedeutet den sofortigen Tod.
    Drei Wochen zuvor sind Pascal, ein Fotograf aus Frankreich, mit dem ich schon oft zusammengearbeitet habe, und ich auf weiter südlich gelegenen Schmugglerpfaden von Pakistan aus ins Land gekommen. Man schreibt den Dezember 1984. Seit annähernd fünf Jahren sind sowjetische Truppen in Afghanistan, versuchen mit immer brutaler werdenden Militäraktionen, aus denen wachsende Verzweiflung spricht, den Widerstand der Muhajeddin gegen das kommunistische Regime in Kabul niederzuzwingen. Doch alle Militärmacht versickert und versandet in den unzugänglichen Bergen Afghanistans. Weitgehend unbehelligt sind wir im Schutz unserer Führer umhergereist, haben mit Menschen in entlegenen Bergdörfern gesprochen, konnten Fotos machen, mit denen wir den Zustand des Landes nach fünf Jahren Besatzung zeigen werden, sobald wir zurück sind in unseren warmen Büros zu Hause.
    Falls wir zurückkehren, heißt das. Im Augenblick ist nichts ungewisser als das.
    Bei unserem Versuch, das Land über den Schmugglerweg, auf dem wir gekommen sind, zu verlassen, sind wir in eine sowjetische Falle geraten und nur mit viel Glück entkommen. Nun sind sie hinter uns her.
    Wir haben ein schlechtes Gewissen. Uns ist nichts passiert in dem Schusswechsel, nicht einmal ein Kratzer, aber Faiz, unser Begleiter, seit wir im Land sind, hat eine Kugel im Oberarm und noch eine in der Seite, vielleicht, jedenfalls blutet er und muss uns verlassen. Man wird ihn in irgendeiner winzigen Siedlung in den Bergen verarzten, unter Bedingungen, die primitiver sind, als sich ein Westeuropäer vorzustellen im Stande ist, und er wird nur mit viel Glück überleben. Deswegen willigen wir in den halsbrecherischen Plan unserer Begleiter ein, Afghanistan über die Seidenstraße zu verlassen.
    Das bedeutet, es geht hinauf in den Hindukusch, jenes zerklüftete Massiv, von dem die Afghanen sagen, es sei so hoch, dass selbst die Vögel es nur zu Fuß überqueren. Wir folgen jenem Weg, auf dem einst Marco Polo nach China gelangte und später chinesische Seide nach Europa, doch der Name täuscht: Es ist keine Straße, sondern ein oft kaum auszumachender Karawanenweg, der durch ödes Bergland führt und Höhenunterschiede von fast fünftausend Metern überwindet.

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