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Eine unberührte Welt

Eine unberührte Welt

Titel: Eine unberührte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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brennen sehen. Mein Bruder – dessen Porträt Sie hier drüben sehen – gehörte ebenfalls dieser Sozietät an. Die meisten Partner waren meine Freunde. Ich war der Einzige, der am Morgen des 11. September nicht im Büro war. Ein Termin beim Zahnarzt hat mir das Leben gerettet.«
    »Oh«, sagte der Besucher leise.
    »Nach diesem Tag«, fuhr Eduard E. Waits fort, »tat ich mehr oder weniger dasselbe wie unser damaliger Präsident – ich beschloss, den Terror zu bekämpfen. Doch während unser Präsident sich, wie wir heute wissen, unwirksamer Mittel bediente und ungangbare Wege beschritt, suchte ich nach einer anderen Strategie.«
    Er kehrte hinter seinen Schreibtisch zurück. »Zunächst bewegten sich meine Vorstellungen eher in konventionellen Bahnen – Rechtsbeistand für Terroropfer, Beschlagnahme von finanziellen Mitteln und dergleichen –, doch dann kam es zu dem Anschlag von Madrid. Hunderte Tote. Ein Massaker.« Er lehnte sich zurück. »Und ich bekam davon überhaupt nichts mit.«
    Der bärtige Pakistani schnappte nach Luft. »Was? Aber wie ist das –?«
    »Ich befand mich damals auf einem zweiwöchigen Urlaub in den Rocky Mountains. Nur ich, ein Rucksack, ein Gewehr und endlose Wälder. Ich musste vor einem Bären ausreißen, verlief mich mehrmals und trank Wasser aus Wildbächen. Und als ich zurück in die Zivilisation kam, stellte ich fest, dass ich einen Terroranschlag verpasst hatte.« Der Anwalt faltete die Hände. »Weil mich keinerlei Nachrichten erreicht hatten. Erstaunlich, nicht wahr? Ich begann, mich zu fragen, was wohl aus dem Terrorismus werden würde, wenn alle Zeitungen, Fernsehsender und so weiter übereinkämen, nicht mehr darüber zu berichten.«
    Der greise Mann im Besuchersessel hörte ihm schweigend zu, mit Augen, in denen Angst stand. Angst vor dem Zorn seines Auftraggebers, vermutlich.
    »Eine illusorische Vorstellung, dachte ich zunächst«, fuhr Eduard E. Waits fort. »Auf freiwilliger Basis niemals zu erreichen. Doch musste es denn auf freiwilliger Basis geschehen?« Er lächelte kalt. »Als ich Mister Bin Laden gegenüber sagte, das amerikanische Rechtssystem sei die wirkungsvollste Waffe, die es gibt, hat er einfach nicht verstanden, dass ich von Anfang an vorhatte, sie gegen ihn zu richten. Das ist alles.«
    © 2007 Andreas Eschbach

Hindukusch
    Bleiben wir noch einen Moment im Hindukusch.
    Die folgende Kurzgeschichte ist erstmals im Dezember 2002 erschienen, in der von Michael Nagula herausgegebenen Anthologie Feueratem , die lauter Drachengeschichten enthielt, u. a. von Gisbert Haefs, Bernhard Kegel, Tanja Kinkel, Hanns Kneifel, Kai Meyer und vielen anderen.
    Als Michael Nagula mich um einen Beitrag zu dieser Sammlung bat, kam mir zupass, dass ich kurz zuvor die Bekanntschaft eines bekannten Auslandsjournalisten gemacht hatte, der mir eine ungeheuerliche Geschichte anvertraut, ja, mich darum gebeten hatte, sie publik zu machen: die Begegnung mit einem wirklichen Drachen – hier, heute, im 20. Jahrhundert.
    Aber bitte glauben Sie jetzt bloß nichts von dem, was ich im vorigen Absatz behauptet habe. Das habe ich nur erfunden. Alles. Ehrlich.
     
    »Drachen?«, wiederholte ich, nur um sicherzugehen, dass ich mich nicht verhört oder plötzlich angefangen hatte, an akustischen Halluzinationen zu leiden.
    Mein Gegenüber lachte. »Merken Sie es? An Ihrer eigenen Reaktion? Das ist es, was ich gemeint habe, als ich sagte, dass es Grenzen dafür gibt, was einem als Wahrheit abgenommen wird, und mag es hundertmal wahr sein. Was nicht sein kann, das darf auch nicht sein. Überschreiten Sie diese Grenze, hört man Ihnen nicht mehr zu. Was Sie sagen, wird einfach ausgeblendet, weil es nicht in das Weltbild passt, auf das wir uns stillschweigend geeinigt haben.«
    Ich griff nach dem Weinglas vor mir auf dem Tisch, nur um etwas zu tun, solange meine Gedanken sich zu ordnen versuchten. »Na ja, gut und schön …«, sagte ich, oder so was Ähnliches. »Skandale werden unter den Teppich gekehrt, man redet nicht über Korruption, Konflikte in Gegenden, die keinen Nachrichtenwert haben, bleiben unerwähnt … Aber Drachen, ich bitte Sie!«
    Mein Gesprächspartner war ein weitgereister, lebenserfahrener Journalist, den man öfters im Fernsehen sieht und dessen Artikel in den renommiertesten Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt werden. Wenn ich seinen Namen nennen dürfte, wäre das hier nicht einfach eine nette Geschichte, die dem Amüsement des Lesers dienen mag, sondern eine Sensation.

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