Eine unberührte Welt
es sollte etwas Schräges sein.«
Schräg.
Nun – damit kann ich etwas anfangen …
Sie hieß Helena, ließ sich von allen Leuten aber nur Lena nennen, war siebenunddreißig Jahre alt und würde zum ersten Mal Weihnachten allein verbringen.
Das Wetter war so traurig wie diese Aussicht. Nasskalte Tage reihten sich auf das Fest zu. Der Himmel blieb grau und inkontinent, kein Schnee sank, nur die Temperaturen draußen. Hässliche Dinge geschahen. Zweimal fand Lena ein totes Tier am Straßenrand, erst einen überfahrenen Fuchs und am Tag darauf eine zerquetschte Katze. Sie sah eine Amsel, die an dem Kadaver herumpickte, und eine andere Katze, die sich mit glitzerndem Jägerblick näherte, ganz offensichtlich nur an der möglichen Beute interessiert, nicht am Schicksal ihrer Artgenossin.
Fressen oder gefressen werden, das war die Devise in der Welt der Tiere. Von einem Fest der Liebe, erkannte Lena, wussten Tiere nichts.
Um so trostloser zu erleben, dass auch Menschen dieses Fest auf den bloßen Anlass reduzierten, Geld auszugeben und Geschäfte zu machen, obwohl sie es besser hätten wissen können.
So überrumpelte sie ein Makler, indem er es verstand, den Eindruck zu erwecken, er käme von einer Behörde. Ehe Lena recht begriffen hatte, was los war, stand der Mann schon in ihrer Eingangshalle, sah sich um und sagte, sie solle das Haus verkaufen, es sei viel zu groß für sie. »Die vielen Räume! Da sind Sie ja nur am Putzen. Von den anstehenden Reparaturen ganz zu schweigen. An denen zahlen Sie sich tot, und wofür?«
Lena erklärte ihm kühl, das Haus sei seit über hundert Jahren im Besitz ihrer Familie und nichts käme weniger in Frage, als es zu veräußern.
Der Mann hob die Schultern. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass solche alten Herrenhäuser heutzutage sehr gesucht sind. Organisationen und Firmen, die einen repräsentativen Sitz wünschen, sind bereit, dafür viel Geld zu zahlen. Sie hätten ausgesorgt, um es plastisch auszudrücken. Überlegen Sie es sich. Sie bekämen leicht anderswo ein schönes kleines Haus oder eine komfortable Wohnung und hätten genug Vermögen übrig, um den Rest Ihres Lebens finanziell unabhängig zu sein.«
»Ich bin noch jung«, sagte Lena.
»Gerade deshalb sage ich es«, erwiderte der Makler und reichte ihr seine Karte. »Hier, für alle Fälle. Sie erreichen mich jederzeit, auch an den Feiertagen.«
Lena nahm die Karte und legte sie, nachdem der Mann gegangen war, auf den großen, staubigen Stapel Werbepost im Flur neben dem Telefon, den zu entsorgen es wirklich höchste Zeit wurde. Gleich nach Weihnachten und noch vor Silvester, schwor sie sich.
Ihr Haus zu verkaufen, was für eine Idee! Ihr Urgroßvater, ein Fabrikant, hatte es erbaut und mit zwei Ehefrauen insgesamt elf Kinder darin großgezogen. Ihr Großvater hatte es noch auf vier Kinder gebracht, wozu fünf Ehen notwendig gewesen waren, und ihr Vater und ihre Mutter schließlich hatten nur ein einziges Kind bekommen: Lena, die ihrerseits kinderlos war und es, wie es aussah, auch bleiben würde.
Doch war das wichtig? Dies war ihr Zuhause, war es immer gewesen. Ihr Schloss. Ihre Burg. Wenn sie die eichene Haustür hinter sich zuzog, kam es ihr immer noch so vor, als zöge sie eine Fallbrücke hoch. Die Zinnen um das Dach herum erschienen ihr seit Kindertagen wie Wehrgänge, die Erker an den Hausecken wie Wachtürme.
Groß war es, ja. Drei Etagen, das Erdgeschoss mit herrschaftlich hohen Decken und einer imposanten Treppe hinauf in die oberen Stockwerke …
Was hatte es nur auf sich mit diesem verdammten Weihnachten, diesem so raumgreifenden Kalendereintrag, dass es ihr vorkam, als sei das Haus größer und stiller und leerer als sonst? Eine Halluzination, weiter nichts. Vaters Tod hatte schließlich an den tatsächlichen Verhältnissen nichts geändert; dass ihr nach seinem Schlaganfall vor dreieinhalb Jahren keine andere Wahl geblieben war, als ihn in ein Pflegeheim zu geben, war doch die weitaus dramatischere Veränderung der Situation gewesen!
Alle zwei Wochen mindestens hatte Lena ihn besucht. Zwei Stunden mit dem Auto waren das immer gewesen, über schmale Straßen zwischen Kuhweiden und Feldern, vorbei an Höfen, in denen Hühner frei herumliefen. Das Heim selber lag am Rand eines ehrfurchteinflößenden Waldes, aus dem manchmal Rehe traten und mit furchtsamer Neugier die Bauwerke der Menschen musterten. Über die Weihnachtsfeiertage hatte Lena sich dann jeweils in einem Gasthof im Dorf ein Zimmer
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