04 - Herzenspoker
Erstes Kapitel
Angeblich lag ein Fluch auf dem Haus Nr. 67 in der Clarges Street, und es galt als
unheilbringende Adresse, doch an diesem Frühlingstag des Jahres 1810 sah das
hohe schmale Haus im vornehmen Londoner Stadtteil Mayfair aus, als sei der
Unstern, unter dem es so lange gestanden hatte, verschwunden und die
Unglückssträhne beendet.
Es gehörte dem Duke of Pelham, der selbst nur einen ungefähren Überblick über
seine zahlreichen Besitztümer hatte. Um die Vermietung des Hauses und die
Personalangelegenheiten kümmerte sich Jonas Palmer, der Verwalter des Duke, ein
schikanöser Betrüger und Lügner. Er zahlte den Dienern niedrige Löhne,
berechnete seinem Herrn aber höhere und ließ die Differenz in seiner Tasche
verschwinden.
Die
Diener beteten vor jeder Saison um einen neuen Mieter. Ein Mieter bedeutete
Feste, Gesellschaften und Abendessen, und diese gesellschaftlichen Ereignisse
wiederum bedeuteten für sie gutes Essen und Trinkgelder. Sie alle steckten ihre
Trinkgelder in eine Sparbüchse, um eines Tages ein Gasthaus kaufen zu können,
und so von dem schrecklichen Palmer unabhängig zu werden.
Die
Dienerschaft war wie eine große Familie, eng miteinander verbunden durch die
gemeinsamen Sorgen und die Abneigung gegen Palmer. Das Oberhaupt der Familie
war der Butler, Rainbird. Nach ihm kamen in der Rangfolge die Haushälterin,
Mrs. Middleton, der Koch, Angus MacGregor, dann der etwas verweichlichte Lakai,
Joseph. Außerdem waren da noch ein Stubenmädchen, Jenny, und ein Hausmädchen,
Alice, und die kleine Lizzie, das Spülmädchen. Dave, den Rainbird vor dem
jämmerlichen Leben eines Kaminkehrergehilfen, der in den Kaminen auf- und
abklettern musste, bewahrt hatte, war der Küchenjunge.
An
diesem schönen sonnigen Frühlingstag war die gesamte Dienerschaft in der
Eingangshalle versammelt - die Frauen mit gestärkten weißen Schürzen, die
Männer in ihren besten Livreen. Sie erwarteten die Ankunft eines neuen Mieters,
noch dazu eines Mieters, von dem sie hoffen durften, dass er sich als großzügig
erwies.
Es
handelte sich um Lord Guy Carlton, den jüngeren Sohn des Earl of Cramworth. Er
hatte lange Zeit am Krieg gegen Napoleon teilgenommen und war krank heimgekehrt.
Palmer hatte auf seine mürrische Art bemerkt, seinen Briefen könne man
entnehmen, dass Mylord die Absicht habe, über die Stränge zu schlagen. Er habe
nämlich angekündigt, dass er zahlreiche Feste veranstalten wolle.
Der
Optimismus der Diener schien sich dem Haus mitgeteilt und die bösen Geister
verbannt zu haben. In diesem Haus hatte sich der neunte Duke of Pelham erhängt,
und über einige Familien, die das Haus für eine Saison gemietet hatten, war
großes Unglück gekommen. Aber heute sah das Stadthaus frisch und neu aus. Selbst die zwei Eisenhunde auf
den Eingangsstufen vor der Haustür waren von Dave so blank poliert worden, dass
das Sonnenlicht auf ihren metallenen Flanken glänzte.
Frühlingsblumen
verschönten die Zimmer, in denen es angenehm nach Bienenwachs und Rosenwasser
duftete.
Als die
Diener sich in der Halle versammelten, um ihren neuen Mieter, der eine Saison
lang ihr Herr sein sollte, zu begrüßen, sprachen sie freundlich miteinander,
ohne die sonst übliche strenge Rangordnung zu beachten. Sobald Lord Guy da war,
würden sie sich wieder an ihren Platz in der Hackordnung erinnern.
Mrs.
Middleton, die unverheiratete Tochter eines Vikars, der schwere Zeiten
durchgemacht hatte - das »Mrs.« war nur ein Höflichkeitstitel -,
strich ihr bestes schwarzes Seidenkleid immer wieder mit nervösen Bewegungen
glatt.
»Ich
möchte wissen, was für ein Mensch Lord Guy ist«, sagte sie wohl zum hundertsten
Male.
»Er muss
schon einigermaßen gesetzt sein, auch wenn er noch keinen Hausstand gegründet
hat«, meinte Rainbird, der Butler, und seine funkelnden grauen Augen in dem
Komödiantengesicht schossen hierhin und dahin, um sich davon zu überzeugen,
dass alles in Ordnung war. »Ich habe in der Adelsliste nachgeschaut. Er ist
fünfunddreißig, da muss er sich längst die Hörner abgestoßen haben.«
»Ich
frage mich, ob er gut aussieht«, sagte Alice träumerisch. Alice, das
Hausmädchen, war eine schöne Blondine mit langsamen, trägen Bewegungen.
»Mir
wäre lieber, er würde nicht seinen eigenen Diener mitbringen«, sagte Joseph,
der Lakai, in seiner affektierten Art zu sprechen. »Fremde Diener machen nur
Scherereien, wenn ihr mich fragt.«
»Kein
Mensch fragt dich, du dummer Kerl«, fuhr ihn Rainbird
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