Eine undankbare Frau
Pizzaschachtel. Und in einer Schublade lagen eine Schere und ein Filzstift. Mit diesen einfachen Mitteln zog er sich auf sein Zimmer zurück, um ein Plakat zu malen.
E rik und Ellinor Mørk erschienen gemeinsam auf der Wache, und sie waren wegen ihrer Mutter Gunilla gekommen. Erik Mørk war älter als seine Schwester und hatte schon graue Schläfen, seine Schwester war um einiges jünger und hatte hellere Haare. Man konnte sehen, dass die beiden eine tiefe Verbindung hatten, die im Laufe ihres Lebens immer stärker geworden war. An diesem Tag, nach dieser entsetzlichen Tat, erschienen sie als eine wütende Einheit. Sie hatten die Lokalzeitung mit der Todesanzeige ihrer Mutter mitgebracht.
Sejer las sie aufmerksam.
»Sie ist siebzig«, sagte Erik Mørk. »Sie hatte gerade erst Geburtstag, und sie war immer sehr gut in Form. Jetzt aber ist sie total verstört. Sie müssen dieses Schwein auf der Stelle finden, denn das ist einfach ein Skandal, da müssen Sie mir doch zustimmen.«
»Ja, das tue ich«, antwortete Sejer.
Er las Gunilla Mørks Todesanzeige ein zweites Mal.
Danach musterte er die beiden mit ernster Miene.
»Wenn Sie in Gedanken den Freundeskreis Ihrer Mutter oder die übrige Verwandtschaft durchgehen, kann es da Anhaltspunkte geben? Jemanden, der sich gedemütigt fühlen könnte und jetzt zurückschlägt?«
Gunillas Tochter Ellinor schüttelte mit Nachdruck den Kopf.
»Solche Menschen haben wir nicht in unserer Verwandtschaft«, erklärte sie. »Und in der unmittelbaren Nachbarschaft meiner Mutter gibt es auch niemanden. Da wohnen nur ordentliche Leute.«
»Wo wohnt sie denn?«
»In Kirkeby«, sagte Erik Mørk. »Sie ist Witwe und lebt schon seit vielen Jahren allein. Bisher hat sie sich nie gefürchtet. Jetzt aber ist sie vollkommen verstört, denn sie begreift nicht, was das zu bedeuten hat. Ich meine, was wollen die von ihr?«
Ellinor Mørk ergriff das Wort.
»Wir können sie nur beruhigen, wenn wir herausfinden, wer das war«, sagte sie. »Damit wir eine Erklärung dafür haben, warum sie ausgerechnet unsere Mutter ausgewählt haben. Sie kann es nicht verstehen und wir können es auch nicht. Sie bleibt für sich, fällt nicht weiter auf. Sie geht jeden Tag einkaufen, arbeitet ein bisschen im Garten, Sie wissen schon.«
»Haben Sie schon bei der Zeitung nachgefragt?«, fragte Sejer. »In der Anzeigenabteilung?«
»Nein«, sagte Erik Mørk. »Ist das nicht Ihre Aufgabe?«
Sejer begann, die Konturen von etwas Schrecklichem zu ahnen, von einem genau durchdachten Plan, einer lautlosen Form von Terror.
»Ich werde mit Ihrer Mutter reden«, versprach er. »Noch heute. Aber zuerst fahre ich bei der Zeitung vorbei. Wenn ich da etwas feststellen kann, gebe ich Ihnen Bescheid.«
Erik Mørk tippte mit dem Zeigefinger auf die Anzeige.
»Haben Sie so etwas schon einmal erlebt?«
»Nein«, sagte Sejer. »Das ist wirklich eine neuartige und sehr üble Art von Streich, und ich habe so etwas noch nie gesehen. Was ist mit dem Gedicht«, hakte er nach, »kommt Ihnen das bekannt vor?«
Ellinor Mørk verdrehte die Augen.
»Dieses Gedicht ist doch eine Katastrophe«, sagte sie. »Unsere Mutter war nie krank. Das alles ist der pure Wahnsinn, und die ganze Zeit klingelt das Telefon, alle haben einen Riesenschreck bekommen, weil da steht, dass sie gestorben ist. Und wenn wir dann sagen, dass es nur ein dummer Scherz war, dann sind sie noch verwirrter. Aber das ist bestimmt seine Absicht gewesen. Denn es ist doch wahrscheinlich ein Mann. Er will uns in Angst versetzen, nicht wahr?«
»Was sollen wir unserer Mutter denn jetzt sagen?«, fragte Erik Mørk. »Wir müssen sie irgendwie beruhigen.«
Sejer überlegte.
»Sagen Sie ihr, dass Sie nur zufällig ausgewählt wurde. Sagen Sie ihr, dass es nur ein Dummejungenstreich war, ohne Sinn und Verstand. Sagen Sie ihr, dass es sich um ein Spiel handelt.«
»Sind Sie wirklich dieser Ansicht? Dass es sich um ein Spiel handelt?«
»Nicht notwendigerweise. Aber so könnten Sie es Ihrer Mutter sagen.«
Er ging zu Jacob Skarre ins Büro.
Sejer musterte seinen jüngeren Kollegen nachdenklich.
»Wenn du in der Zeitung deine eigene Todesanzeige lesen würdest«, fragte er. »Wie würdest du reagieren?«
Skarre hatte von der falschen Anzeige bereits gehört. Er öffnete den Mund, um zu antworten, überlegte sich die Sache aber anders und beschloss, erst einmal gründlich nachzudenken.
Was würde er sagen, wenn er eines Morgens beim Frühstück so etwas in der Zeitung
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