Eine undankbare Frau
das Kuchenangebot, zu dem sie selbst einen leckeren Mandelkranz beigesteuert hatte. Ob ich wohl achtzig werde? fragte sie sich, während sie aus dem Küchenfenster sah. Nicht viele werden achtzig, es ist keine Selbstverständlichkeit, dass ich so alt werde. Auch wenn ich noch ziemlich rüstig bin – gut zu Fuß und klar im Kopf.
Der Himmel war strahlend blau und die Sonne ging langsam auf. Gott hat uns einen weiteren, strahlend schönen Tag geschenkt, dachte sie, und ich werde das Beste daraus machen. Dazu sind wir Menschen verpflichtet, wir müssen uns bemühen und uns über all das Gute freuen. Und wenn wir nicht zufrieden sind, müssen wir einen sehr guten Grund dafür haben. So dachte Gunilla Mørk über das Leben und die Menschen. Aber weil sie siebzig geworden war, hatte sie auch begonnen, über den Tod nachzudenken. Wie eine dunkle Wolke hing er über ihr und ließ ihr keine Ruhe. Manchmal überkam sie nachts diese Dunkelheit und drang in ihre Gedanken. Sie zog den Vorhang zur Seite und schaute hinaus in den Garten. Während sie so dastand und über den Tod nachdachte, fiel ihr Blick auf ihre Hand, und sie sah, dass die Haut nicht mehr jung und glatt war, sondern trocken und runzlig. Der Anblick stürzte sie für ein paar Sekunden in tiefe Verzweiflung. Sie hob die Hand und betrachtete sie genauer, legte sie an ihre Wange. Die Hand war natürlich warm und weich, genauso warm und weich, wie sie es immer gewesen ist. Woher kamen also diese törichten Gedanken? Aber manchmal schien der Augenblick zu bersten und einen Streifen aus eiskalter Wirklichkeit einzulassen.
Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.
Es war früh am Morgen. Sie hörte unten im Hof einen kleinen Knall und wusste, dass die Lokalzeitung in den Briefkasten gefallen war. Der Zeitungsbote war bereits auf dem Weg zum nächsten Haus. Er hatte ein Fahrrad mit einem kleinen Wagen, und mit Kräften, die sie selbst nicht im Entferntesten mehr besaß, strampelte er in seiner roten Postuniform mit seiner kleinen Kutsche den Hang hinauf. Sie ging hinunter, hob das Gesicht in die Sonne und spürte die Wärme.
Die Sonne wärmt noch genauso wie damals, als ich sechzehn war, dachte sie verträumt. Reich und golden und lebensspendend. Der Wind ist mild und das Gras umwerfend grün und saftig, am liebsten würde ich mich hinsetzen und es essen, wie die Kühe. Aber sie ging stattdessen zum Briefkasten und holte die Zeitung. Auf der ersten Seite war ein Mann abgebildet, der die Arme um ein Schaf gelegt hatte, und sie las die Überschrift:
»Der Mythos des norwegischen Schafzüchters.«
Sie ging zurück ins Haus und legte die Zeitung auf den Küchentisch. Sie wollte den Artikel natürlich lesen, denn die Schafzucht interessierte sie sehr, aber zuerst wollte sie sich Kaffee kochen und ein Brot schmieren. Alles musste in einer bestimmten Reihenfolge erledigt werden, und es sollte mit einer gewissen Langsamkeit getan werden, wozu sollte sie sich auch beeilen. Es ging ja alles doch nur dem Ende entgegen. Jetzt jammerst du schon wieder, wies sich Gunilla Mørk zurecht, aber Gott verlangt von einem Menschen ja nicht mehr, als er ihm gegeben hat. Das Brot schmeckte ihr. Die Marmelade war selbstgemacht, aus Beeren aus ihrem eigenen Garten, und sie hatte den Geschmack nicht durch zuviel Zucker ruiniert.
Dann las sie den Artikel über den Schafzüchter.
»Der Mythos vom norwegischen Bauern und seiner Liebe zu seinem Vieh erfreut sich allergrößter Beliebtheit, ist aber stark übertrieben. Das Foto des am Boden zerstörten Bauern, der neben einem Schaf kniet, das von einem Bären gerissen wurde, hat nichts mit Trauer zu tun. Es geht dabei ausschließlich um seinen finanziellen Verlust. Es handelt sich um Schauspielerei auf hohem Niveau, um die öffentliche Meinung milde zu stimmen und so immer höhere staatliche Subventionen bewilligt zu bekommen.«
Das behauptete zumindest ein Professor, von dem sie allerdings noch nie gehört hatte.
Aber der Bauer auf dem Foto, ein gewisser Sverre Skarning, beteuerte, alle seine Schafe zu lieben, auch die schwarzen. Sie betrachtete das Foto aufmerksam und versuchte, sich eine Meinung zu bilden, wusste aber nicht so recht, was sie glauben sollte. Natürlich mögen die ihre Schafe, befand sie. Außerdem gefiel ihr das Bild. Ein Mann und ein Schaf in inniger Umarmung, das machte ihr ganz einfach gute Laune. Sie blätterte weiter zur nächsten Seite. Zwischendurch trank sie einen Schluck Kaffee, der brachte ihr ganzes System in Schwung, so
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