Eine verlaessliche Frau
sind Sie nicht. Ich habe ein Photo.«
»Das ist von jemand anderem. Von meiner Cousine India.«
Er konnte spüren, wie die Leute aus der Stadt sie beobachteten, wie ihre Blicke das Ganze hier registrierten, diesen Betrug. Es war einfach zuviel.
»Sie brauchen einen anständigen Mantel. Wir sind hier auf dem Land.«
»Das ist alles, was ich habe. Es tut mir leid. Das Bild. Es tut mir leid, aber ich kann alles erklären.«
Dieser Betrug vor der ganzen Stadt, dass er schon wieder zum Narren gehalten wurde, vor den ganzen Leuten. Sein Herz klopfte wie wild, und seine Beine fühlten sich blutleer an.
»Wir können hier nicht die ganze Nacht stehen bleiben. Wer auch immer Sie sind. Geben Sie mir Ihren Koffer.«
Sie reichte ihm ihr Gepäck, als er seine Hand aus der Manteltasche zog. Für einen Augenblick spürte sie ihre Wärme.
»Das ist alles. Ist das alles?«
»Ich kann das erklären. Ich habe nicht viel. Ich dachte â¦Â«
»Wir können hier nicht im Schneesturm stehen bleiben, während alle ⦠wir können hier nicht bleiben.« Er blickte sie an, ohne Wärme, ohne Zuvorkommenheit. »Dies hier beginnt schon mit einer Lüge. Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich das weiÃ.«
Er zog das Photo aus der Manteltasche, ihr Bild, und zeigte es ihr, als ob die Tatsache, dass er es aus der Tasche zog, sie irgendwie dazu bringen konnte, die scheue, häusliche Frau zu werden, die dort abgebildet war. Sie sah es an.
»Wer auch immer Sie sind, diese Frau sind Sie nicht.«
»Ich werde es Ihnen erklären, Mr. Truitt. Ich bin nicht hierher gekommen, um Sie zum Narren zu halten.«
»Nein, das werden Sie auch nicht. Was auch immer Sie sonst noch sein mögen, Sie sind eine Lügnerin.«
Er drehte sich um, und sie folgte ihm über den verlassenen Bahnsteig zu einer Kutsche, die daneben geparkt war. Die nervösen Pferde stampften auf und bliesen groÃe Atemwolken aus ihren Nüstern, während Ralph Truitt ihren Koffer nach hinten brachte und ihn mit dicken Lederriemen festschnallte. Wortlos half er ihr auf ihren Sitz.
Er verschwand im umherwirbelnden Schnee, tauchte wieder auf und kletterte auf seinen Sitz. Er sah sie an, zum ersten Mal sah er ihr direkt ins Gesicht. »Vielleicht haben Sie gedacht, ich bin ein Trottel. Da haben Sie sich geirrt.«
Er knallte mit den Zügeln, und die Pferde trabten flott in die weiÃe Leere hinaus. Sie fuhren schweigend dahin. Die Lichter aus den Häuserfenstern schimmerten schwach, wie aus weiter Ferne. Sie konnte in dem Schnee nicht ausmachen, wie nah oder weit etwas von der Kutsche entfernt war. Sie konnte nicht erkennen, wie viele Geschäfte oder Häuser dort lagen. Sie erkannte nie eine Abzweigung, bevor sie sie nahmen. Er wusste es. Die Pferde wussten es. Hier war sie eine Fremde.
Der Schnee dämpfte das Geräusch der Räder. Es gab kein Gespräch. Sie schwebte in einer geräuschlosen Leere mitten im Nirgendwo.
»Gibt es hier viele Menschen?«
»Wo?«
»In der Stadt.«
»Zweitausend. Ungefähr. Jedes Jahr etwas mehr oder weniger. Hängt davon ab.«
»Wovon?«
»Davon, ob mehr sterben als geboren werden.«
Mehr sagten sie nicht. Sie glitten durch den Schnee, in der Ferne das Licht aus den Häusern, in jedem lebte eine Familie, in jedem miteinander verwobene Leben, während sie völlig isoliert und einsam dasaÃen.
Ralph hatte nichts zu sagen. Er hatte bestimmte Erwartungen gehabt, und jetzt war sie da, wer auch immer sie nun war, und plötzlich war alles ganz anders. In jedem Haus, an dem sie vorbeifuhren, wurden Leben gelebt, die er durch und durch kannte. In diesen Häusern kannten die Menschen einander, und ihn kannten sie auch. Er hatte ihre Babys gehalten, war bei ihren Hochzeiten dabei gewesen und schockiert gewesen von ihren plötzlichen Wahnattacken und Wutausbrüchen. Er war ein Teil von ihrem Leben und war es auch wieder nicht. Er war da und er hatte getan, was von ihm verlangt, was von ihm erwartet wurde.
In der Kälte wurden sie verrückt, sie verstiegen sich ins Innerste ihrer Religion und tauchten als Wahnsinnige wieder auf. Aber selbst das war ihm vertraut. Waren sie gesund, wollten sie glauben, dass sie die Sorte Menschen waren, deren Babys von Ralph Truitt gehalten und geknuddelt worden waren, und er fand es einigermaÃen leicht, die Illusion zu nähren, dass solche Dinge eine Bedeutung
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