Eine verräterische Spur: Thriller (German Edition)
»Wo ist Wendy?«
»Irgendwo hier im Krankenhaus mit Sara. Wie soll ich Sara jemals wieder unter die Augen treten? Ihre Tochter kommt zu Besuch zu mir und muss am Ende einem anderen Kind einen Schürhaken über den Schädel ziehen! Warum passiert mir schon wieder so was?«
»Ich weiß es nicht, Liebes«, sagte er und zog sie erneut an sich. »Ich schätze mal, weil du dich so sehr um andere kümmerst. Wenn du dich nicht um Dennis Farman gekümmert hättest, wäre er vor einem Jahr in einer Jugendstrafanstalt verschwunden, der erste Schritt zu einer lebenslangen Karriere als Knastbruder. Wenn du dich nicht um Haley gekümmert hättest, wäre sie jetzt bei Milo Bordain, und das ist ein schrecklicher Gedanke.« Er rückte ein kleines Stück von ihr ab und nahm sanft ihren Kopf zwischen die Hände. »Wenn du dich nicht so viel um andere kümmern würdest … dann wäre ich nicht so wahnsinnig verliebt in dich, dass ich in aller Öffentlichkeit die Beherrschung verliere und mich zum Idioten mache wie gerade eben.«
Anne versuchte ein Lächeln, aber dahinter lauerten immer noch die Tränen. »Ich habe das Gefühl, alles verkehrt gemacht zu haben. Was wird jetzt aus Haley? Sie war in Gefahr, weil sie sich in unserem Haus aufhielt! Maureen wird sie uns wegnehmen!«
»Nur über meine Leiche«, versprach Vince. »Oder über ihre.«
»Milo Bordain will morgen das Sorgerecht beantragen.«
»Mach dir keine Gedanken wegen der Bordains. Die haben im Moment ganz andere Sorgen.«
Die Tür wurde geöffnet. Vince sah den Arzt, der hereinkam, finster an. »Das wird aber auch langsam Zeit.«
»Vince …«
Er riss sich zusammen und trat zur Seite. Jedes Mal, wenn Anne bei der Untersuchung vor Schmerz wimmerte, musste er einen Wutanfall unterdrücken. Beim Anblick der Verletzungen, die Dennis Farman ihr beigebracht hatte, wurde ihm beinahe übel. Gott sei Dank waren es fast nur oberflächliche Wunden. Trotzdem mussten mehrere davon genäht und verbunden werden, und man musste sie im Auge behalten für den Fall, dass sie sich entzündeten.
Vor dem Nähen schickte ihn Anne aus dem Zimmer, und er widersprach ihr nicht, weil er wusste, dass er es nicht ausgehalten hätte, dabei zuzusehen, wie jemand die Liebe seines Lebens mit einer Nadel traktierte.
Er ging ins Freie, um in der feuchten, kühlen Luft wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Er trug noch das gleiche Hemd, das er angehabt hatte, als Zander Zahn mit dem Messer auf ihn losgegangen war; seine Jacke hatte er im Büro des Sheriffs vergessen. Er sehnte sich danach, alles, was an diesem Tag geschehen war, unter einer heißen Dusche abzuwaschen und dann nackt zu seiner Frau unter die Bettdecke zu kriechen.
Das Adrenalin in seinen Adern war aufgebraucht, und er fühlte sich schwach und zittrig. Er setzte sich auf eine Bank, stützte die Arme auf die Oberschenkel und ließ den Kopf hängen, versuchte seine Atmung und seinen Herzschlag zu beruhigen. Je ruhiger er wurde, desto klarer wurde ihm, was er heute Abend beinahe verloren hätte. Zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres hätte man ihm beinahe seine große Liebe, die zweite Chance in seinem Leben geraubt – seine Anne.
Erst jetzt, in der Stille um ihn herum, wurde er sich dessen richtig bewusst, und er erlaubte sich, der Angst nachzugeben und seinen Tränen freien Lauf zu lassen.
Nachdem man sie abgetastet und gewaschen und genäht und verbunden hatte, konnte Anne endlich in den Kittel schlüpfen, den sie sich von einer Schwester geliehen hatte. Sie setzte sich auf den Untersuchungstisch, um auf Vince zu warten, und strich Haley übers Haar.
Die Vorstellung, dass das Jugendamt sie ihr wegnehmen könnte, war unerträglich. Dass sie bei Milo Bordain aufwachsen sollte, war undenkbar. Und dass Anne selbst es gewesen war, die das kleine Mädchen heute Abend ein zweites Mal durch die Hölle geschickt hatte, raubte ihr schier den Verstand.
Welche Folgen würde diese neuerliche traumatische Erfahrung für Haley haben, so kurz nachdem sie ihre Mutter verloren hatte und beinahe selbst umgebracht worden war? Die möglichen psychologischen Schäden machten Anne große Angst. Sie musste gründlich über ihre zukünftige Tätigkeit als Verfahrenspflegerin nachdenken, wenn sie die Menschen, die ihr nahestanden, damit in Gefahr brachte.
Andererseits, wäre sie nicht Verfahrenspflegerin gewesen, dann wäre Haley vermutlich nie zu ihr gekommen.
Das kleine Mädchen schlug verschlafen die Augen auf und sah Anne an. »Mommy Anne? Bist du
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