Dan
Prolog
Das Universum schenkte ihnen Regen am Tag der Lieferung, einen ergiebigen Sommerregen, der von den Everglades über Miami hereinzog und die Durchfahrtstrassen der Stadt in lange, verschwommen orangerote Rutschbahnen verwandelte, einen Regen, in dem nichts und niemand mehr klar zu erkennen war.
Maggie zwinkerte einmal und gleich noch einmal, einerseits um sich gegen Unglück zu wappnen, andererseits um sich zu vergewissern, dass die verschleierte Sicht nichts mit ihren Augen zu tun hatte. Seit ihr Lourdes heute Nachmittag diesen albernen Glückskeks in die Hand gedrückt hatte, war sie ständig den Tränen nahe.
Sie schob ihre Fingerspitzen in die Vordertasche ihrer Jeans und fuhr mit einem Fingernagel über die Kante des kleinen Zettels, den sie mehrfach gefaltet hatte. Die Worte, die darauf standen, hatten sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt.
»Jetzt, da Liebe in dir wächst, erblüht auch das Schöne.«
Wenn das Universum sprach, horchte Magdalena Varcek aufmerksam. Das hatte sie von ihrer Großmutter gelernt.
Achte auf die Zeichen, die dir das Universum sendet
, hätte Baba gesagt.
Dieses Zeichen war ziemlich unmissverständlich. Und es stand auch schon fest, was sie zu tun hatte. Sie musste heute Abend mit Michael reden. Er würde wissen, was zu tun war.
Mit geschlossenen Augen stellte sie sich vor, wie sein Gesicht aussehen würde, wenn sie es ihm sagte. Es war schön, an ihn zu denken; an seine warmen braunen Augen, in denen sie sich verlieren konnte, seinen wundervollen Mund, den kleinen Höcker auf seiner Nase, seine Küsse und seine Art, sie zu …
Sie sah auf und begegnete im Rückspiegel Ramons unerbittlichem Blick. Diese verschleierten venezolanischen Augen hatte sie einmal anziehend gefunden, und der spöttische Zug um seinen Mund war ihr verträumt vorgekommen. Auch jetzt wurde ihr noch ganz heiß, wenn sie ihren Freund ansah, allerdings aus ganz anderen Gründen. Wenn er wüsste, was sie in dem Schuppen hinter seinem Elternhaus mit Michael getan hatte, würde er ihn umbringen.
Und Ramons Vater würde sie umbringen.
Aber sie wollte noch nicht sterben, nicht im Alter von achtzehn, und schon gar nicht durch die Hand des abscheulichen El Viejo. Seit dem Tag, an dem Ramon sie nach Hause gebracht hatte wie eine Streunerkatze, hatte sein Vater nach Vorwänden gesucht, um sie wieder loszuwerden. Am Ende hatte sie bleiben dürfen, als unbezahlte Kinderfrau für die kleine Lourdes.
Vorn auf dem Beifahrersitz saß Carlos. Er trommelte rhythmisch mit den Fingern und wippte mit dem Kopf zu einem Lied, das er nur in seinem Kopf hören konnte. Seine wabbeligen Wangen bebten, während er schmatzend Kaugummi kaute. Wahrscheinlich hatte er sich noch eine Line Koks reingezogen, ehe sie aufgebrochen waren. Er sagte auf Spanisch etwas zu Ramon und warf einen Blick über die Schulter auf Maggie.
Ramon nahm das Telefon von der Konsole, und die roten Bremsleuchten des Wagens vor ihnen fielen auf das Klapperschlangentattoo auf seinem Unterarm. Auch das hatte sie einmal unglaublich sexy gefunden.
Er wählte und fragte dann: »Wo steckst du, Bruder?«
Da er Englisch sprach, musste Michael am anderen Ende sein. Viejo und Ramon ließen ihn nicht immer mitmachen, aber sie hatte ihm von dem Job heute Abend erzählt, und er war ziemlich gut darin, sich unauffällig dazuzugesellen. Ihr gefiel der Gedanke, dass er es tat, um sie zu sehen.
Vielleicht konnte sie ihm das Zeichen geben, wenn die anderen die Kisten abluden. Einen Armreif auf den anderen Arm zu schieben bedeutete:
Komm in mein Zimmer
. Zwei Armreife:
Wir treffen uns im Schuppen
. Drei:
Folge mir, wenn ich aus dem Haus gehe
. Meistens tat er das.
»Sie sind durch? Jetzt schon?« Ramon wandte sich zu Carlos und murmelte etwas.
Er nahm schlitternd die nächste Abfahrt, und das Wasser spritzte hinter seinen Reifen auf, während er durch das menschenleere Industriegebiet am Flughafen raste. Wenige Minuten später bog er auf den Parkplatz eines Lagerhauses ein. Im Regen war die Aufschrift kaum zu erkennen:
AJ Cargo & Shipping
.
»El Viejos Geheimversteck« wäre passender gewesen. Doch Alonso Jimenez war heute Abend nicht da. Normalerweise war er hier, doch irgendetwas an den stummen Blicken, die zwischen Ramon und Carlos hin und her gingen, verriet Maggie, dass es diesmal nicht so glatt lief wie sonst. Erst dieser Sturzregen, und dann hatte sich Juan Santiago auch noch den Magen an dem chinesischen Essen verdorben, dass sie bestellt hatten, sodass Ramon
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