Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
haben.«
Anna nahm den Brief heraus und reichte ihn der alten Frau. »Ich dachte mir, dass Sie ihn vielleicht wiederhaben wollen.«
Frau Hallmanns Gesicht gab außer dem bittersüßen Lächeln keinen Hinweis auf ihr Verhältnis zu dem Briefschreiber. »Wenn ich ehrlich bin, gehört er in das Märchenbuch, und da das Märchenbuch jetzt dir gehört, gehört dir auch der Brief. Aber ich erzähle dir sehr gern, was es damit auf sich hat. Wie du vielleicht schon vermutet hast, hat dieser Brief einige Bedeutung für mich. So große, dass ich ihn auch nach meinem Abtreten von dieser Welt in guten Händen wissen will.«
»Was Sie aber erst in ungefähr fünfzig Jahren tun werden!«, gab Anna zu bedenken, worauf Frau Hallmann auflachte.
»Willst mir wohl gar keine Ruhe gönnen, Mädchen, was? Aber zu deiner Beruhigung, ich komme aus einer Familie von sehr zähen Menschen. Wir vergehen nicht so leicht, und mindestens hundert möchte ich schon werden.«
Frau Hallmann starrte ein Weilchen in ihre Kaffeetasse, dann begann sie zu erzählen: »Ich lernte Kurt in einem Sommer vor dem Krieg kennen, er war damals in einem Turnverein und mit seiner Mannschaft – er war Schwimmer – bei einem Turnier in unserer Gegend. Ich war damals gerade mal vierzehn Jahre alt und eigentlich noch viel zu jung für die Liebe, und doch verknallte ich mich Hals über Kopf in diesen schmucken Jungen, der bereits siebzehn war. Ich kann dir sagen, dass noch andere Mädchen auf ihn scharf waren, besonders welche aus höheren Klassen, und so rechnete ich mir kaum Chancen aus. Doch irgendwie schafften wir es zusammenzukommen, manchmal ist es wirklich so, dass zwei Menschen sich finden sollen. Wir trafen uns zunächst heimlich, solange wir beide in dem Sommerlager waren. Dann stellten wir fest, dass wir gar nicht so weit voneinander entfernt wohnten. Wir trafen uns weiterhin heimlich und wurden darüber älter, ohne dass unsere Liebe zueinander schwächer geworden wäre.« Ein verträumtes Lächeln erschien nun auf ihrem Gesicht. Der längst vergangene Sommer schien in allen Einzelheiten vor ihr zu stehen – Einzelheiten, die sie Anna verschwieg. Einen Moment gönnte sie sich noch in der Erinnerung an das Schöne – dann trieb das Dunkle einen Schatten über ihren Blick.
»Doch dann kam der Krieg, und Kurt wurde eingezogen. Ich versprach, auf ihn zu warten und ihm zu schreiben, sobald er seine Feldpostnummer hatte. Wir küssten uns am Bahnhof, und es war uns egal, wer uns sah. Dann begann die lange Zeit des Wartens. Wir alle hatten geglaubt, dass der Krieg schnell vorüber sein würde. Aber er dauerte länger und länger.«
Sie nahm den Brief jetzt doch zur Hand und strich mit dem Daumen über den Schriftzug. »Du hast dich sicher gefragt, warum er keinen Absender trägt.«
Anna nickte. »Sie haben ihn sicher in einen anderen Umschlag getan, nicht wahr?«
»Ja, das habe ich, denn der alte war mit der Zeit und auf der Flucht völlig ramponiert worden. Ich wollte wenigstens den Inhalt behalten.« Sie machte eine Pause, seufzte und fuhr dann fort.
»Der Brief erreichte mich genau am Heiligen Abend, und er machte mich traurig und glücklich zugleich. Traurig, weil ich lesen musste, wie schlecht es meinem Kurt ging, glücklich, weil ich wie durch alle seine Briefe wusste, dass er noch am Leben war und mich liebte. Ich verbrachte eines der schönsten Weihnachtsfeste allein durch diesen Brief, denn sonst hatte ich ja nicht mehr viel, worüber ich mich freuen konnte. Meine Mutter und ich brachten unsere Geschwister, so gut es ging, durch, unser Vater hatte sich seit Monaten nicht mehr von der Front gemeldet. In der Zwischenzeit hatte ich meiner Mutter von Kurt erzählt, denn ich ertrug es kaum noch, ihn zu vermissen. Ich fürchtete, dass ich ihn vergessen, dass sein Bild verblassen würde, also wollte ich über ihn sprechen. Meine Mutter erinnerte sich sogar an ihn und gestand mir, dass sie schon einen Verdacht gehabt hatte. Aber da er in den Krieg gezogen war, hatte sie diesen nicht geäußert – aus Rücksicht auf mich. Nun aber sprachen wir viel von ihm, manchmal wiederholten wir uns auch, aber das kümmerte uns nicht. Mit jedem Wort, das fiel, schärfte sich sein Bild in mir, ich erinnerte mich wieder an seine Küsse, seine Umarmungen, seinen Duft. Wir haben nie miteinander geschlafen, und doch hatte ich manchmal das Gefühl, dass er in der Nacht neben mir lag, mich umarmte und mir Sicherheit gab.
Dann kam der Bombenangriff. Der Alarm riss uns aus
Weitere Kostenlose Bücher